Chinas zurückgelassene Kinder

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China erfährt derzeit eine massive Migration von Arbeitskräften in die Städte. Im Jahr 2009 zogen 11% der Bevölkerung, etwa 145 Millionen Menschen, vom Land in größere Städte, um Arbeit zu finden (Hu, 2012). Diejenigen, die für eine Arbeit fortziehen, haben jedoch häufig familiäre Beziehungen und viele von ihnen sind Eltern, die zwischen ihrem Familienleben und den wirtschaftlichen Möglichkeiten an anderen Orten wählen müssen. Viele hoffen, dass sie ihren Kindern mit dem Geld, das sie in der Stadt verdienen werden, eine bessere Zukunft ermöglichen können.

Infolge dieser Abwanderung gibt es momentan etwa 61 Millionen zurückgelassene Kinder, die in Chinas ländlichen Gebieten mit nur einem Elternteil oder anderen Verwandten, meist den Großeltern, leben (Pedroletti, 2016). Zwei Millionen dieser Kinder sind sich selbst überlassen (The Economist, 2015). Diese Kinder werden gemeinhin liushou ertong genannt – die zurückgelassenen Kinder.

„Gäbe es keine rechtlichen Hürden, würden wir sie mitbringen.“ – Liu Ting, Mutter des 12-jährigen Tang Yuwen1(1)

Das Hukou-System ist zu einem Großteil Grund für diese Situation. Hukou ist eine Aufenthaltsgenehmigung, die dem Inhaber in der Region, in der er lebt, einen kostenlosen Zugang zu sozialen Diensten wie Bildung und der Gesundheitsversorgung gibt. Zieht ein Kind in diesem System mit seinen Eltern aus einem Dorf in eine Stadt, kann es nicht mehr kostenfrei zur Schule oder zum Arzt gehen. Daher ist es für viele Arbeitstätige eine zu große finanzielle Belastung, ihre Kinder mitzunehmen (Al Jazeera, 101 East, 2016).

Darüber hinaus lassen lange Arbeits- und Pendlerzeiten den Eltern wenig Zeit, sich um ihre Kinder zu kümmern, sobald sie in der Stadt leben. Außerdem leben einige Eltern in Wohnheimen der Fabriken, in die sie Kinder nicht mitbringen können (The Economist, 2015).

„Ich mache mir Sorgen, weil ich nicht bei ihm bin […] Ich mache mir Sorgen um seine Sicherheit.“ – Liu Ting

Zurückgelassene Kinder sind anfällig für Missbrauch, da sie keine Eltern haben, die sie beschützen und sich für sie einsetzen. So werden sie möglicherweise Opfer von Mobbing in der Schule oder von Missbrauch durch Erwachsene (entweder durch ihren Vormund oder andere). Im Jahr 2015 „wurde ein Lehrer zu einer lebenslangen Haft verurteilt, nachdem er 12 seiner Schüler vergewaltigte, von denen 11 zurückgelassen waren“ (The Economist, 2015). Im selben Jahr wurden ein behindertes 15-jähriges Mädchen und ihr Bruder, beide waren zurückgelassene Kinder, von entfernten Verwandten ermordet, die das Mädchen vergewaltigt hatten und befürchteten, entdeckt zu werden (ebenda). Ein weiteres Sicherheitsrisiko ist, dass zurückgelassene Kinder sich dem Verbrechen zuwenden könnten, da sie nicht von Erwachsenen beaufsichtigt werden und auf sich allein gestellt sind.

„Ich weiß, dass es für Mutter und Vater schwer ist, Geld zu verdienen […] aber ich vermisse sie so sehr, es ist sehr schmerzhaft.“ – Tang Yuwen

Die chinesische Nichtregierungsorganisation On the Road to School (Shangxuelushang) berichtet, dass neun Millionen der zurückgelassenen Kinder ihre Eltern nur einmal im Jahr sehen (Pedroletti, 2016) und über zwei Millionen haben seit einem Jahr nicht einmal einen Anruf bekommen (China Development Brief, 2015). Die Abwesenheit der Eltern hat einen Einfluss auf die psychische Gesundheit von Kindern und die Zurückgelassenen sind anfällig für Angststörungen und Depressionen, einen Mangel an Selbstwertgefühl und ein Gefühl der Verlassenheit. Dadurch kommt es manchmal zu tragischen Ereignissen: Im Jahr 2015 vergiftete ein 13-jähriger Junge in Bije seine kleinen Schwestern, bevor er Selbstmord beging und eine Notiz hinterließ auf der stand: „Der Tod ist seit vielen Jahren mein Traum.“ (The Economist, 2015). Darüber hinaus zeigen Nachforschungen, dass die Abwesenheit der Eltern auch die schulischen Leistungen, das emotionale und soziale Verhalten und die Entwicklung der Kinder im Vergleich mit Altersgenossen, die mit ihren Eltern leben, beeinflusst (The Economist, 2015).

„Mutter und Vater haben ein schweres Leben, ich will nicht, dass sie sich um mich sorgen.“ – Tao Lan, 14 Jahre alt

Um dieses Problem zu lösen, hat die chinesische Regierung ein Trainingsprogramm für Sozialarbeiter aufgenommen, um zurückgelassenen Kindern zu helfen. Das Programm ist jedoch nicht weitreichend genug und nur 0,5% der zurückgelassenen Kinder profitieren derzeit davon (The Economist, 2015). Eine andere Lösund wäre, das Hukou-System zu reformieren, um Eltern zu ermöglichen, ihre Kinder mitzunehmen, wenn sie umsiedeln. Zuletzt würde auch die Schaffung von Arbeitsstellen auf dem Land Familien erlauben, zusammenzubleiben (ebenda).

(1) Alle Zitate sind von BBC ‘Counting the cost of China’s left-behind children’: http://www.bbc.com/news/world-asia-china-35994481

geschrieben von : Salomé Guibreteau
Übersetzt von : Kristina Assmann-Gramberg
Revision von : Katrin Glatzer

 

 

Al Jazeera, 101 East. (01.12.2016). China’s Left-Behind Generation. Al Jazeera am 20.04.2017 : http://www.aljazeera.com/programmes/101east/2016/11/china-left-generation-161130065311382.html

China Development Brief. (24.06.2015). Road to School releases white paper on mental issues facing China’s left-behind children. China Development Brief: http://chinadevelopmentbrief.cn/news/road-to-school-releases-white-paper-on-chinese-left-behind-childrens-mental-condition/

Hu, X. (04.01.2012). China’s Young Rural-to-Urban Migrants: In Search of Fortune, Happiness, and Independence. Migration Policy Institute am 19.04.2017: http://www.migrationpolicy.org/article/chinas-young-rural-urban-migrants-search-fortune-happiness-and-independence

Pedroletti, B. (29.03.2016). En Chine, au pays des enfants délaissés. Le Monde am 19.04.2017 : http://www.lemonde.fr/international/visuel/2016/03/29/en-chine-au-pays-des-enfants-delaisses_4891826_3210.html

Sudworth, J. (12.04.2016). Counting the cost of China’s left-behind children. BBC am 20.04.2017: http://www.bbc.com/news/world-asia-china-35994481l

The Economist. (17.10.2015). China’s left-behind little match children. The Economist am 19.04.2017: http://www.economist.com/news/briefing/21674712-children-bear-disproportionate-share-hidden-cost-chinas-growth-little-match-children