Der Grundsatz der Inklusion und Mitbestimmung

Der Grundsatz der Inklusion und Mitbestimmung basiert auf dem Recht auf Respekt vor den Meinungen des Kindes, das in Artikel 12 der UN-Kinderrechtskonvention (die Konvention oder KRK) realisiert wird. Es bringt einmalig zum Ausdruck, wie sich die Wahrnehmung eines Kindes von einem passivem Rechtsobjekt und mit dem alleinigen Bedarf nach Schutz zu einem, wie von der Konvention vorgesehenen, aktiven Beteiligten an der Entscheidungsfindung verschiebt (Tobin, 2019). 

Geschichte

Bei früheren Kinderrechtsinstrumenten, wie zum Beispiel die Erklärung zu den Rechten des Kindes 1924 und 1959 lag der Fokus ihrer Maßnahmen auf dem Wohlbefinden des Kindes. Die Absicht der am Entwurf Beteiligten, das Kind als einen unabhängigen und aktiven Rechteinhaber (Office of the High Commissioner for Human Rights, 2007) zu etablieren, setzte den Fokus auf die sich entwickelnde Autonomie des Kindes (Committee on the Rights of the Child, 2009). Dieses Ziel und der Zweck der Konvention spiegeln wider, dass Kinder als „sehr aktive, konstruktive Denker und Lerner“ wahrgenommen werden (Flavell, 1992).

Begriffe des 12. Artikels

„Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife.“ (Article 12 (1) CRC)

„Sichern […] zu“

Dieses Recht setzt bei Vertragsstaaten eine strenge Verpflichtung durch, die ihnen keine Entscheidungsfreiheit bei der Anwendung und Umsetzung des Rechts garantiert. Daher sind die Staaten dazu verpflichtet, das Recht des Kindes, seine Meinungen frei auszudrücken, aktiv umzusetzen und diese Meinungen angemessen zu berücksichtigen. 

„Fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden“

Dieser Begriff basiert auf der Annahme, dass das Kind fähig ist, ihre oder seine eigene Meinung zu bilden und schreibt keine Altersbegrenzung vor, um dieses Recht auszuüben. Die Bewertung einer solchen Fähigkeit verpflichtet die Vertragsstaaten, die erwachsenenzentrierte Perspektive zurückzunehmen und eine Kinderperspektive anzuwenden. Dies erfordert Verständnis für die kinderspezifischen Formen, sich auszudrücken (Committee on the Rights of the Child, 2009). Eine eigene Meinung bilden zu können erfordert nicht, dass das Kind über umfassendes Wissen des vorliegenden Problems verfügt. Es erfordert einzig, dass das Kind versteht und sich darüber bewusst ist, dass sie oder er ihre oder seine Meinung zu einem bestimmten Problem äußert (Tobin, 2019). 

„das Recht zu, diese Meinung […] frei zu äußern“

Dieser Gesichtspunkt von Artikel 12 und dem Recht, gehört zu werden, umfasst zwei Aspekte. 

Der erste Teil basiert auf dem Begriff „frei“. Er beinhaltet, dass das Recht keine Verpflichtung des Kindes darstellt, seine Meinung zu äußern. Vielmehr gewährt es ihr oder ihm das Recht zu wählen, ihre oder seine Meinungen zu äußern. Deswegen sollte ein Kind niemals unter Druck stehen oder beeinflusst werden, eine Meinung zu äußern (Committee on the Rights of the Child, 2009). 

Zweitens benötigt der Grundsatz der Effektivität, der der KRK unterliegt, proaktive Maßnahmen der Vertragsstaaten, um altersgemäße und sichere Verhältnisse für das Kind zu schaffen, ihre oder seine Meinungen zu äußern und den persönlichen, sozialen und kulturellen Hintergrund des Kindes zu berücksichtigen. Diese altersgemäßen und sicheren Umstände beinhalten auch die Möglichkeit, Meinungen auf alternative, kindgerechte Arten und Wege auszudrücken, so wie Kunst, Tanz, Poesie, Bilder, Malerei, Fotos, andere visuelle Präsentationen, E-Mail, Zeichensprache, Gesten, emotionale Darstellung und Schweigen (Tobin, 2019).

„In allen das Kind berührenden Angelegenheiten“

Der Begriff „allen […] Angelegenheiten“ erweitert den Rahmen von Artikel 12 KRK, um Angelegenheiten einzubeziehen, die in der Konvention nicht speziell genannt werden. Diese umfassende Formulierung reflektiert die Absicht der Verfasser, ohne ein generelles politisches Mandat zu schaffen (Tobin, 2019). Durch das Einbinden des Begriffs „berührenden“ wird der Rahmen von Artikel 12 begrenzt, indem eine – direkte oder indirekte – Verbindung zwischen der auf dem Spiel stehenden Problemen und einem Kind verlangt wird. Daher beinhaltet „berührenden“ Angelegenheiten, die nicht ausschließlich Kinder oder ein Kind betreffen.

Diese breite Interpretation zielt darauf ab, Kinder in die soziale, juristische und administrative Prozesse, Entscheidungen, Handlungen und Unterlassungen einzubeziehen, um die Qualität der Lösungen zu verbessern (Committee on the Right of the Child, 2009). Der Ausschuss für die Rechte des Kindes (KRK-Ausschuss) lieferte in seinem allgemeinen Kommentar Nr. 12 eine nicht abgeschlossene Liste an Situationen, die ein Kind typischerweise betreffen, wie zum Beispiel in der Familie, bei einer alternativen Betreuung, bei der Gesundheitsfürsorge, bei Bildung und in der Schule, beim Spielen, in der Freizeit, beim Sport, bei kulturellen Aktivitäten, bei der Arbeit, in Situationen der Gewalt, bei der Entwicklung präventiver Strategien, bei Immigrations- und Asylverfahren, in Notsituationen und im nationalen und internationalen Rahmen (Committee on the Right of the Child, 2009). 

„Berücksichtigen […] angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife“

Dieses Element von Artikel 12 der KRK garantiert, dass einem Kind nicht nur die Möglichkeit gewährt wird, ihre oder seine Meinungen auszudrücken und gehört zu werden, sondern dass die ausgedrückte Meinung auch ernsthaft in Erwägung gezogen wird. Eine ernsthafte Erwägung muss sowohl die Kapazität des Kindes als auch den Einfluss des Problems auf das Kind untersuchen (Committee on the Rights of the Child, 2009). 

Erstens erfordert die sich entwickelnde Kapazität des Kindes eine individuelle einzelfallbezogene Abwägung des Alters und der Reife des Kindes. Das Alter – das biologische Alter des Kindes – kann nicht der einzige entscheidende Faktor sein, da er nur auf die Kapazität des Kindes hindeutet (Committee on the Rights of the Child, 2009). Die Reife bezieht sich auf die Fähigkeit, die Folgen des auf dem Spiel stehenden Problems zu verstehen und zu beurteilen und ihre oder seine Meinungen auszudrücken. Im Gegensatz zum Alter des Kindes wird die zuvor genannte Fähigkeit von den Lebenserfahrungen, dem Bildungsgrad, der Intelligenz, der Empathie und den dem Kind zur Verfügung stehenden Informationen beeinflusst (Tobin, 2019). 

Ein weiterer entscheidender Faktor für das Gewicht, das den Meinungen des Kindes verliehen wird, ist der Wirkungsgrad der Angelegenheit auf das Kind. Falls eine spezielle Angelegenheit eine größere Auswirkung auf ein einzelnes Kind hat, müssen den Meinungen, die vom Kind geäußert werden, bei der Erwägung ein größeres Gewicht verliehen werden. Ebenso wird die Last der Begründung, dass eine Entscheidung im Einklang mit der Meinung des Kindes steht, höher sein, wenn eine größere Auswirkung auf das Kind vorliegt (Tobin, 2019). 

Geschrieben von Alexander Weihrauch

Übersetzt von Jana Ruf

Korrektur gelesen von Beate Dessewffy

Zuletzt aktualisiert am 2. März 2021

Quellen:

Flavell, John (1992), Cognitive Development: Past Present and Future; published in Lee, Kang (2000), Childhood Cognitive Development: The Essential Readings; in: Tobin, John (28 March 2019), The UN Convention on the Rights of the Child: A Commentary”, Oxford Commentaries on International Law, Chapter 13, Oxford Scholarly Authorities on International Law (OSAIL). 

1989 UN Convention on the Rights of the Child

Office of the High Commissioner on Human Rights (2007), Legislative History of the Convention on the Rights of the Child (‘Legislative History’), p. 365. 

Tobin, John (28 March 2019), The UN Convention on the Rights of the Child: A Commentary”, Oxford Commentaries on International Law, Chapter 4, 7 and 13, Oxford Scholarly Authorities on International Law (OSAIL). Committee on the Rights of the Child (20 July 2009), General Comment no. 12 on the Right of the Child to be heard, CRC/C/GC/12 retrieved from refworld.org.