Der Grundsatz des „Wohl des Kindes“ wird in Artikel 3 (1) der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) eingeführt, die vorsieht, dass „bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleich viel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, […] das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt [ist], der vorrangig zu berücksichtigen ist“.
Ursprung
Frühere Menschen- und Kinderrechtsinstrumente, wie die Erklärung der Rechte des Kindes 1959, die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau 1979 und andere Instrumente, wie zum Beispiel das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2006 definieren den Grundsatz als „ausschlaggebende“ (Prinzip 2 der Erklärung der Rechte des Kindes von 1959), „oberste“ (Artikel 5(b) 1979 UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau) und „vorrangige“ (Artikel 7 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen) Überlegung, was die Bedeutung des Grundsatzes hervorhebt. Ebenso erhöhen regionale Kinderrechtsinstrumente, wie die Afrikanische Charta über die Rechte und das Wohlergehen des Kindes, das Gewicht des Grundsatzes, „der vorrangig zu berücksichtigen ist“ (Kilkelly et al, 2019).
Zentrale Begriffe
Für ein besseres Verständnis dieses Artikels, müssen zentrale Begriffe erklärt und definiert werden:
„Bei allen Maßnahmen“
Der Begriff „Bei allen Maßnahmen“ schließt alle Entscheidungen, Handlungen, Verhaltensweisen, Vorschläge, Dienstleistungen, Vorgänge und andere Maßnahmen ein, inklusive Untätigkeit und Unterlassen (Committee on the Rights of the Child, 2013). Dieser Begriff deutet an, dass es in Situationen, die Kinder einschließen oder betreffen, keine Einschränkungen der Anwendung des Grundsatzes gibt (Tobin, 2019).
„Betreffen“
„Betreffen“ bezieht sich auf alle Arten der Maßnahmen, die Kinder direkt oder indirekt tangieren. Außerdem muss „betreffen“ einschließlich als relevant für interpretiert werden, mit einer Auswirkung auf Kinder oder Kinder tangierend (Committee on the Rights of the Child, 2012).
„Zu berücksichtigen ist“
Der Ausschuss für die Rechte des Kindes (KRK-Ausschuss) erläuterte, dass der Begriff „zu berücksichtigen ist“ starke legale Verpflichtungen der Vertragsstaaten beinhaltet und deswegen keine Ermessensfreiheit oder Flexibilität garantiert, ob der Grundsatz des „Wohl des Kindes“ bemessen werden muss (Committee on the Rights of the Child, 2013).
„Vorrangig zu berücksichtigen“
Artikel 3 (1) legt fest, dass der Grundsatz des „Wohl des Kindes […] vorrangig zu berücksichtigen ist“, was besonderen Schutz für Kinder in allen Situationen gewährleistet und ihre besondere Verletzbarkeit anerkennt (Kilkelly et al, 2019). Der Grundsatz ist unveräußerlich. Dies bedeutet, dass er selbst zu Zeiten von Notfällen nicht eingeschränkt werden kann (Committee on the Rights of the Child, 1992).
Die am Entwurf Beteiligten und der KRK-Ausschuss beabsichtigten, eine Priorisierung und höhere Bedeutung gleichgewichtig mit einem Interesse von anderen Personen, Gruppen oder Entitäten zuzuweisen, ohne den flexiblen und anpassungsfähigen Charakter aufzuheben, indem der Grundsatz „vorrangig zu berücksichtigen“ ist (UN Economic and Social Council, 1981). Diese Absicht führte dazu, dass der Grundsatz der entscheidende Faktor im Falle eines Interessenausgleichs ist, ohne den Status eines per se übergeordneten Interesses zu bekommen (Tobin, 2019).
Der KRK-Ausschuss hebt das Ziel hervor, ein harmonierendes Gleichgewicht zwischen den beteiligten Interessen zu finden unter ausdrücklicher Berücksichtigung und einer Gewichtung des Kindeswohls in dieser speziellen Situation (Committee on the Rights of the Child, 2013). Deswegen muss die Beurteilung vor dem Abgleichen der beteiligten Interessen stattfinden, um die Verletzbarkeit eines Kindes als Individuum adäquat zu berücksichtigen.
Zum Beispiel, im Fall ZH (Tanzania) (FC) v Secretary of State for the Home Department (ZH (Tanzania) (FC) v Secretary of State for the Home Department, 2011) präzisierte der oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs, dass „das Wohl des Kindes“ zuerst bedacht werden muss undin einem Fall, in dem kein Kompromiss gefunden wird, kann es nur durch den „kumulativen Effekt anderer Überlegungen“ aufgewogen werden, weil der Grundsatz „von Natur aus bedeutender“ als andere Interessen ist (ZH (Tanzania) (FC) v Secretary of State for the Home Department, 2011).
Der Grundsatz in der Praxis
In der Praxis muss der Grundsatz als ein dreifaches Konzept angewendet werden – als ein wesentliches Recht, ein fundamentaler, interpretierbarer Rechtsgrundsatz und eine Verfahrensvorschrift (Committee on the Rights of the Child, 2013).
Der Grundsatz als ein wesentliches Recht verpflichtet die Staaten, das Wohl des Kindes zu berücksichtigen, es als eine vorrangige Überlegung zu beachten, wenn unterschiedliche Interessen in Erwägung gezogen werden und dass das Recht umgesetzt wird, immer wenn eine Entscheidung ein Kind betrifft (Committee on the Rights of the Child, 2013). Dies schafft für die Staaten eine intrinsische Verpflichtung. Ein wesentliches Recht ist direkt anwendbar und kann vor einem Gericht geltend gemacht werden (Committee on the Rights of the Child, 2013).
Der Grundsatz als wesentlicher, interpretierbarer Rechtsgrundsatz benötigt folgendes: „Wenn eine gesetzliche Bestimmung mehr als eine Deutung zulässt, sollte die Auslegung gewählt werden, die dem Wohl des Kindes am effektivsten dient. Die in der Konvention und ihren Fakultativprotokollen verankerten Rechte bilden den Rahmen für die Deutung.“ (Committee on the Rights of the Child, 2013).
„Es benötigt Verfahrensgarantien, um das Wohl des Kindes zu beurteilen und zu bestimmen“ (Committee on the Rights of the Child, 2013). Dies erfordert, dass der mögliche (positive und negative) Einfluss einer Entscheidung bewertet werden muss. Staaten können zur Rechenschaft gezogen werden, da sie verpflichtet sind, die explizite Abwägung des „Wohl des Kindes“ und wie es bei allen Entscheidungen, die Kinder betreffen, respektiert wurde, zu begründen und zu beweisen (Committee on the Rights of the Child, 2013).
Bei der Bewertung des „Wohl des Kindes“ müssen die Meinung, die Identität, die Gefährdungssituation, das Recht auf Gesundheit, das Recht auf Bildung, die Erhaltung des familiären Umfelds und die Aufrechterhaltung der Beziehungen des Kindes in Erwägung gezogen werden. Dies ist eine nicht abschließende Liste an Abwägungen, da der Grundsatz von Natur aus flexibel ist und Staaten die nötigen Überlegungen fallbezogen beurteilen müssen (Tobin, 2019).
Geschrieben von Alexander Weihrauch
Übersetzt von Jana Ruf
Korrektur gelesen von Beate Dessewffy
Zuletzt aktualisiert am 2. März 2021
Quellen:
1959 Declaration of the Rights of the Child.
Kilkelly, U. & Liefaard, T. (2019), “International Human Rights of Children”, International Human Rights, 2019, p. 138.
2007 UN Convention on the Rights of Persons with Disabilities.
1979 Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women.
Committee on the Rights of the Child, Report on the second session, September/October 1992, CRC/C/10, para. 67.
Committee on the Rights of the Children (5 October 2012), “Concluding Observations Albania”, CRC/C/ALB/CO/2-4, para 30(a).
Tobin, John (28 March 2019), The UN Convention on the Rights of the Child: A Commentary”, Oxford Commentaries on International Law, Chapter 4, 7 and 13, Oxford Scholarly Authorities on International Law (OSAIL)
Committee on the Rights of the Children (29 May 2013), General comment No. 14 on the right of the child to have his or her best interests taken as a primary consideration (art. 3, para. 1), CRC/C/GC/14.
UN Economic and Social Council and Commission on Human Rights (17 February 1981), Report of the Working Group on a Draft Convention on the Rights of the Child, E/CN.4/L.1575, p. 23 and 24.