Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (Protokoll I)

Zusatzprotokoll zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte

8. Juni 1977

Artikel über den Schutz der Rechte des Kindes

Titel IV : Zivilbevölkerung

Abschnitt III – Behandlung von Personen, die sich in der Gewalt einer am Konflikt beteiligten Partei befinden Kapitel I – Anwendungsbereich und Schutz von Personen und Objekten

Artikel 74 – Familienzusammenführung

Die Hohen Vertragsparteien und die am Konflikt beteiligten Parteien erleichtern in
jeder möglichen Weise die Zusammenführung von Familien, die infolge bewaffneter Konflikte getrennt worden sind; sie fördern insbesondere im Einklang mit den Abkommen und diesem Protokoll und in Übereinstimmung mit ihren jeweiligen Sicherheitsbestimmungen die Tätigkeit humanitärer Organisationen, die sich dieser Aufgabe widmen.

Artikel 75 – Grundlegende Garantien

1. Soweit Personen von einer in Artikel 1 genannten Situation betroffen sind, werden sie, wenn sie sich in der Gewalt einer am Konflikt beteiligten Partei befinden und nicht auf Grund der Abkommen oder dieses Protokolls eine günstigere Behandlung geniessen, unter allen Umständen mit Menschlichkeit behandelt und geniessen zumindest den in diesem Artikel vorgesehenen Schutz, ohne jede nachteilige Unterscheidung auf Grund von Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion oder Glauben, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder einer sonstigen Stellung oder anderer ähnlicher Unterscheidungsmerkmale. Jede Partei achtet die Person, die Ehre, die Überzeugungen und die religiösen Gepflogenheiten aller dieser Personen.

2. Folgende Handlungen sind und bleiben jederzeit und überall verboten, gleichviel
ob sie durch zivile Bedienstete oder durch Militärpersonen begangen werden: :

a) Angriffe auf das Leben, die Gesundheit oder das körperliche oder geistige
Wohlbefinden von Personen, insbesondere :

i) vorsätzliche Tötung;

ii) Folter jeder Art, gleichviel ob körperlich oder seelisch;

iii) körperliche Züchtigung und ;

iv) Verstümmelung ;

b) Beeinträchtigung der persönlichen Würde, insbesondere entwürdigende und
erniedrigende Behandlung, Nötigung zur Prostitution und unzüchtige Handlungen jeder Art ;

c) Geiselnahme ;

d) Kollektivstrafen und ;

e) die Androhung einer dieser Handlungen.

3. Jede wegen Handlungen im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt festgenommene, in Haft gehaltene oder internierte Person wird unverzüglich in einer ihr verständlichen Sprache über die Gründe dieser Massnahmen unterrichtet. Ausser bei Festnahme oder Haft wegen einer Straftat wird eine solche Person so schnell wieirgend möglich, auf jeden Fall aber dann freigelassen, sobald die Umstände, welche
die Festnahme, Haft oder Internierung rechtfertigen, nicht mehr gegeben sind.

4. Gegen eine Person, die für schuldig befunden wurde, im Zusammenhang mit dem
bewaffneten Konflikt eine Straftat begangen zu haben, darf eine Verurteilung nur in einem Urteil ausgesprochen und nur auf Grund eines Urteils eine Strafe vollstreckt werden; dieses Urteil muss von einem unparteiischen, ordnungsgemäss zusammen gesetzten Gericht gefällt werden, welches die allgemein anerkannten Grundsätze eines ordentlichen Gerichtsverfahrens beachtet; dazu gehören folgende Garantien:

a) Das Verfahren sieht vor, dass der Beschuldigte unverzüglich über die Einzelheiten der ihm zur Last gelegten Straftat unterrichtet werden muss, und gewährt ihm während der Hauptverhandlung und davor alle zu seiner Verteidigung erforderlichen Rechte und Mittel;

b) niemand darf wegen einer Straftat verurteilt werden, für die er nicht selbst
strafrechtlich verantwortlich ist;

c) niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung angeklagt oder verurteilt werden, die nach dem zur Zeit ihrer Begehung für ihn geltenden innerstaatlichen oder internationalen Recht nicht strafbar war; ebenso darf keine schwerere Strafe als die im Zeitpunkt der Begehung der Straftat angedrohte verhängt werden; wird nach Begehung der Straftat durch Gesetz eine mildere Strafe eingeführt, so kommt dies dem Täter zugute ;

d) bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld wird vermutet, dass der wegen
einer Straftat Angeklagte unschuldig ist ;

e) jeder wegen einer Straftat Angeklagte hat das Recht, bei der Hauptverhandlung anwesend zu sein ;

f) niemand darf gezwungen werden, gegen sich selbst als Zeuge auszusagen oder sich schuldig zu bekennen ;

g) jeder wegen einer Straftat Angeklagte hat das Recht, Fragen an die Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen und das Erscheinen und die Vernehmung von Entlastungszeugen unter den für die Belastungszeugen geltenden Bedingungen zu erwirken ;

h) niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits nach demselben Recht und demselben Verfahren rechtskräftig freigesprochen oder verurteilt worden ist, erneut von derselben Partei verfolgt oder bestraft werden ;

i) jeder wegen einer Straftat Angeklagte hat das Recht auf öffentliche Urteilsverkündung ;

j) jeder Verurteilte wird bei seiner Verurteilung über sein Recht, gerichtliche
und andere Rechtsmittel oder Rechtsbehelfe einzulegen, sowie über die hier für festgesetzten Fristen unterrichtet.

5.Frauen, denen aus Gründen im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt die Freiheit entzogen ist, werden in Räumlichkeiten untergebracht, die von denen der Männer getrennt sind. Sie unterstehen der unmittelbaren Überwachung durch Frauen. Werden jedoch Familien festgenommen, in Haft gehalten oder interniert, so bleibt die Einheit der Familien bei ihrer Unterbringung nach Möglichkeit erhalten.

6. Personen, die aus Gründen im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt festgenommen, in Haft gehalten oder interniert werden, wird auch nach Beendigung des Konflikts bis zu ihrer endgültigen Freilassung, ihrer Heimschaffung oder Niederlassung der in diesem Artikel vorgesehene Schutz gewährt.

7. Zur Ausschaltung jedes Zweifels hinsichtlich der Verfolgung und des Gerichts-
verfahrens in Bezug auf Personen, die der Begehung von Kriegsverbrechen oder von Verbrechen gegen die Menschlichkeit beschuldigt werden, sind folgende Grundsätze anzuwenden:

a) Personen, die solcher Verbrechen beschuldigt werden, sollen in Übereinstimmung mit den anwendbaren Regeln des Völkerrechts verfolgt und vor Gericht gestellt werden, und

b) allen Personen, die nicht auf Grund der Abkommen oder dieses Protokolls
eine günstigere Behandlung geniessen, wird die in diesem Artikel vorgesehene Behandlung zuteil, gleichviel ob die Verbrechen, deren sie beschuldigt werden, schwere Verletzungen der Abkommen oder dieses Protokolls darstellen oder nicht.

8. Die Bestimmungen dieses Artikels sind nicht so auszulegen, als beschränkten
oder beeinträchtigten sie eine andere günstigere Bestimmung, die auf Grund der Regeln des anwendbaren Völkerrechts den unter Absatz 1 fallenden Personen grösseren Schutz gewährt.

Artikel 76 -Schutz von Frauen

1. Frauen werden besonders geschont; sie werden namentlich vor Vergewaltigung,
Nötigung zur Prostitution und jeder anderen unzüchtigen Handlung geschützt.

2. Fälle von schwangeren Frauen und Müttern kleiner von ihnen abhängiger Kinder,
die aus Gründen im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt festgenommen, in Haft gehalten oder interniert sind, werden vor allen anderen Fällen behandelt.

3. Die am Konflikt beteiligten Parteien bemühen sich soweit irgend möglich, zu
vermeiden, dass gegen schwangere Frauen oder Mütter kleiner von ihnen abhängiger Kinder für eine im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt begangene Straftat die Todesstrafe verhängt wird. Ein wegen einer solchen Straftat gegen diese Frauen verhängtes Todesurteil darf nicht vollstreckt werden.

Artikel 77 – Schutz von Kindern

1. Kinder werden besonders geschont; sie werden vor jeder unzüchtigen Handlung
geschützt. Die am Konflikt beteiligten Parteien lassen ihnen jede Pflege und Hilfe zuteil werden, deren sie wegen ihres Alters oder aus einem anderen Grund bedürfen.

2. Die am Konflikt beteiligten Parteien treffen alle praktisch durchführbaren Mass-
nahmen, damit Kinder unter fünfzehn Jahren nicht unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen; sie sehen insbesondere davon ab, sie in ihre Streitkräfte einzugliedern. Wenn die am Konflikt beteiligten Parteien Personen einziehen, die bereits das fünfzehnte, aber noch nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet haben, bemühen sie sich, zuerst die Ältesten heranzuziehen.

3. Wenn in Ausnahmefällen trotz der Bestimmungen des Absatzes 2 Kinder, die
noch nicht das fünfzehnte Lebensjahr vollendet haben, unmittelbar an Feindseligkeiten teilnehmen und in die Gewalt einer gegnerischen Partei geraten, wird ihnen weiterhin der besondere in diesem Artikel vorgesehene Schutz gewährt, gleichviel ob sie Kriegsgefangene sind oder nicht.

4. Werden Kinder aus Gründen im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt festgenommen, in Haft gehalten oder interniert, so werden sie in Räumlichkeiten untergebracht, die von denen der Erwachsenen getrennt sind, ausgenommen Fälle, in denen nach Artikel 75 Absatz 5 Familien so untergebracht werden, dass ihre Einheit erhalten bleibt.

5. Ein Todesurteil, das wegen einer im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt begangenen Straftat verhängt wurde, darf an Personen, die zum Zeitpunkt der Straftat noch nicht das achtzehnte Lebensjahr vollendet hatten, nicht vollstreckt werden.

Artikel 78 – Evakuierung von Kindern

1. Eine am Konflikt beteiligte Partei darf Kinder, die nicht ihre eigenen Staatsangehörigen sind, nicht in ein fremdes Land evakuieren, es sei denn, es handle sich um eine vorübergehende Evakuierung, die durch zwingende Gründe der Gesundheit, der medizinischen Behandlung oder – ausser in besetztem Gebiet – der Sicherheit der Kinder erforderlich wird. Sind Eltern oder andere Sorgeberechtigte erreichbar, so ist
deren schriftliches Einverständnis mit der Evakuierung erforderlich. Sind sie nicht erreichbar, so darf die Evakuierung nur mit schriftlicher Zustimmung der Personen vorgenommen werden, die nach Gesetz oder Brauch in erster Linie für die Kinder zu sorgen haben. Die Schutzmacht überwacht jede derartige Evakuierung im Einvernehmen mit den betreffenden Parteien, das heisst der die Evakuierung vornehmenden Partei, der die Kinder aufnehmenden Partei und jeder Partei, deren Staatsangehörige evakuiert werden. In jedem Fall treffen alle am Konflikt beteiligten Parteien alle praktisch durchführbaren Vorsichtsmassnahmen, um eine Gefährdung der Evakuierung zu vermeiden.

2.Wird eine Evakuierung nach Absatz 1 vorgenommen, so wird für die Erziehung
jedes evakuierten Kindes, einschliesslich seiner dem Wunsch der Eltern entsprechenden religiösen und sittlichen Erziehung unter Wahrung grösstmöglicher Kontinuität gesorgt.

3. Um die Rückkehr der nach diesem Artikel evakuierten Kinder zu ihren Familien
und in ihr Land zu erleichtern, stellen die Behörden der Partei, welche die Evakuierung vornimmt, und gegebenenfalls die Behörden des Aufnahmelands für jedes Kind eine mit Lichtbildern versehene Karte aus und übermitteln sie dem Zentralen Suchdienst des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Jede Karte enthält, soweit möglich und soweit dem Kind dadurch kein Schaden entstehen kann, folgende Angaben :

a) Name(n) des Kindes ;

b) Vorname(n) des Kindes ;

c) Geschlecht des Kindes ;

d) Geburtsort und -datum (oder ungefähres Alter, wenn das Datum nicht bekannt ist) ;

e) Name und Vorname des Vaters ;

f) Name, Vorname und gegebenenfalls Mädchenname der Mutter ;

g) nächste Angehörige des Kindes ;

h) Staatsangehörigkeit des Kindes ;

i) Muttersprache des Kindes sowie alle weiteren Sprachen, die es spricht ;

j) Anschrift der Familie des Kindes ;

k) eine etwaige Kennnummer des Kindes ;

l) Gesundheitszustand des Kindes ;

m) Blutgruppe des Kindes ;

n) etwaige besondere Kennzeichen ;

o) Datum und Ort der Auffindung des Kindes ;

p) das Datum, an dem, und der Ort, von dem aus das Kind sein Land verlassen hat ;

q) gegebenenfalls Religion des Kindes ;

r) gegenwärtige Anschrift des Kindes im Aufnahmeland ;

s) falls das Kind vor seiner Rückkehr stirbt, Datum, Ort und Umstände des Todes sowie Bestattungsort.