Der Grundsatz vom Leben, Überleben und der Entwicklung

Artikel 6 der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) sieht einen weiteren Grundsatz vor, der die Deutung, Umsetzung und Anwendung der Konvention und ihrer Bestimmungen leitet. Dieser Artikel verankert das inhärente Recht des Kindes auf Leben und enthält die staatliche Verpflichtung, das Überleben und die Entwicklung des Kindes zu gewährleisten (Committee on the Rights of the Child, 2006).

Das Recht auf Leben

Das Recht auf Leben muss sowohl als ziviles und politisches, als auch als wirtschaftliches, soziales und kulturelles Recht gedeutet werden, da es nicht eng ausgelegt werden sollte (Committee on the Rights of the Child, 2017). 

Das Recht auf Leben als ziviles und politisches Recht zu deuten, bietet das Recht, gegen willkürliches Töten geschützt zu werden und den „Anspruch, von Handlungen und Unterlassungen frei zu sein, die ihren unnatürlichen und vorzeitigen Tod zu verursachen beabsichtigen oder voraussichtlich verursachen“ (Committee on the Rights of the Child, 2017). Bei der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Deutung wird die Voraussetzung an Mindestbedingungen für ein Leben in Würde für einen wirksamen Genuss des Rechts ergänzt (Committee on the Rights of the Child, 2017). Diese Deutung des Rechts auf Leben in Artikel 6 wird durch die Einbeziehung der Rechte auf Überleben und auf Entwicklung ergänzt.

Das Recht auf Überleben

Der Grundsatz vom Überleben und der Entwicklung kann nur ganzheitlich umgesetzt werden, da er mit allen anderen Rechten und Maßnahmen der KRK konjunktiv gelesen werden muss, wie zum Beispiel Richtlinien und wesentliche Rechte („Recht auf Gesundheit, angemessene Ernährung, soziale Sicherheit, einen angemessenen Lebensstandard, ein gesundes und sicheres Umfeld, Bildung und Spiel (Abs. 24, 27, 28, 29 und 31)”) (Committee on the Rights of the Child, 2006). 

Für die Zwecke des Artikels 6 sollte das Recht auf Überleben so gedeutet werden, dass es Staaten dazu verpflichtet, alle angemessenen positiven sowie negativen Maßnahmen zu ergreifen, die zum Überleben eines Kindes beitragen werden. Dies bedeutet, dass die Staaten nicht nur dazu verpflichtet sind, von willkürlichem Entzug des Lebens Abstand zu nehmen, sondern auch aktiv Maßnahmen für das Unternehmen präventiver Schritte einzuführen, „um das Leben der Kinder zu verlängern“ (OHCHR, 2007).

In dieser Hinsicht entspricht das Recht auf Überleben der aktuellen und umfassenden Darlegung des Rechts auf Leben, um eine Verpflichtung einzuschließen, „die nötigen Bedingungen für die Gewährleistung eines Lebens in Würde zu schaffen“ (Tobin, 2019). Die weltweite Erklärung von 1990 zu Überleben, Schutz und Entwicklung von Kindern bietet eine nicht abschließende   Liste an Gründen, die das physische Überleben von Kindern bedrohen, wie zum Beispiel „Unterernährung, Krankheit, Mangel an sauberem Wasser, unzureichende sanitäre Einrichtungen und der Einfluss von Drogen“ (World Declaration on the Survival, Protection and Development of Children, 1990).

Der Ausschuss für die Rechte des Kindes (KRK-Ausschuss) ergänzt die Liste um die folgenden Probleme: „Erkrankung an akuten Infektionen der Atemwege und Diarrhö, Anämie, intestinale Infektionskrankheiten, bakterielle Infektionen, Masern, Lungenentzündung und HIV/AIDS, unzureichende pränatale und postnatale Betreuung, niedrige Immunisierungsraten, schlechte sanitäre Einrichtungen (inklusive fehlender Zugang zu sicherem Trinkwasser) und Unterernährung“ (Committee on the Rights of the Child, 2005). 

Das Recht auf Entwicklung

Das ganzheitliche Konzept des Rechts auf Entwicklung verankert die staatliche Verpflichtung, die physische, mentale, spirituelle, moralische, seelische und soziale Entwicklung des Kindes zu gewährleisten (Committee on the Rights of the Child, 2017). Das Recht auf Entwicklung basiert auf dem schnellen und angreifbaren Prozess der Entwicklung, der Kinder von Erwachsenen unterscheidet (Morag, 2014). Daher ist es ein einzigartiges Recht für Kinder und konzentriert sich auf die persönliche Entwicklung des Kindes (Tobin, 2019).

Der KRK-Ausschuss betonte, dass die Entwicklung der „physischen, seelischen, spirituellen, sozialen, emotionalen, kognitiven, kulturellen und wirtschaftlichen Kapazitäten“ (Committee on the Rights of the Child, 2016) und die sexuelle Entwicklung eines Kindes (Committee on the Rights of the Child, 2003) unter den Artikel 6 KRK fällt. Die Entwicklung eines Kindes muss, ähnlich wie das Wohl des Kindes, fallbezogen beurteilt werden, wobei mehrere Disziplinen kombiniert werden müssen, wie zum Beispiel „Pädiatrie, Psychologie, Psychiatrie, Neurowissenschaft, soziale Arbeit und Bildung“ (Tobin, 2019). Bei diesen Erwägungen muss darauf geachtet werden, dass sie nicht traditionelle Voreingenommenheit in Bezug auf Geschlecht, Rasse und Klasse widerspiegeln.

„Ein höchstmögliches Maß“

Der Begriff „soll gewährleisten“ lässt keinen Ermessensspielraum des Staates zu. Durch die Verwendung des Begriffs „ein höchstmögliches Maß“ berücksichtigten die am Entwurf Beteiligten mögliche Ausnahmen, um die Verpflichtungen eines Vertragsstaates zu begrenzen. Diese Ausnahmen könnten mögliche Probleme beinhalten, wie zum Beispiel begrenzt verfügbare Ressourcen des Staates (Artikel 4 KRK), die Handlungen oder Unterlassungen der Eltern oder des gesetzlichen Vormunds des Kindes (Artikel 5 und 27 KRK), die Handlungen oder Unterlassungen Dritter (Artikel 2 KRK) und die Handlungen oder Unterlassungen eines Kindes selbst (Tobin, 2019). Defizite beruhend auf den oben genannten Begründungen müssen gerechtfertigt und die Ursächlichkeit gut belegt werden.

Geschrieben von Alexander Weihrauch

Übersetzt von Jana Ruf

Korrektur gelesen von Beate Dessewffy

Zuletzt aktualisiert am 2. März 2021

Quellen:

1990 World Declaration on the Survival, Protection and Development of Children, para. 12 from the World Summit for Children on 30 September 1990. In: Tobin, John (28 March 2019), The UN Convention on the Rights of the Child: A Commentary”, Oxford Commentaries on International Law, Oxford Scholarly Authorities on International Law (OSAIL).

Office of the High Commissioner on Human Rights (2007), Legislative History of the Convention on the Rights of the Child (‘Legislative History’), p. 365. 

Tobin, John (28 March 2019), The UN Convention on the Rights of the Child: A Commentary”, Oxford Commentaries on International Law, Chapter 4, 7 and 13, Oxford Scholarly Authorities on International Law (OSAIL). 

Committee on the Rights of the Child (17 March 2003), General comment No. 3 on HIV/AIDS and the Rights of the Child, CRC/GC/2003/3, retrieved from refworld.com.

Committee on the Rights of the Child (21 June 2017), General comment No. 21 on children in street situations, CRC/C/GC/21. 

Morag, Tamar (2014), The Principles of the Un Convention on the Rights of the Child and their influence on Israeli Law, Michigan State International Law Review Vol. 22: 2. 

Committee on the Rights of the Child (21 September 2005), Concluding Observations: Nepal, 39th Session, CRC/C/15/Add. 261 in: Tobin, John (28 March 2019), The UN Convention on the Rights of the Child: A Commentary”, Oxford Commentaries on International Law, Oxford Scholarly Authorities on International Law (OSAIL). 

Committee on the Rights of the Child (6 December 2016), General Comment No 20 on the implementation of the rights of the child during adolescence, CRC/C/GC/20, para 15, retrieved from refworld.com.

UN Committee on the Rights of the Child (20 September 2006), General comment No. 7 on Implementing Child Rights in Early Childhood, CRC/C/GC/7/Rev.1, retrieved from refworld.com.