Afghanistan – eine Kindheit im Exil

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Mit 15 träumen viele noch von einer unbeschwerten und rosigen Zukunft. Man löst sich langsam vom Elternhaus und unternimmt Ausflüge mit Gleichaltrigen. Das Leben dreht sich um schulische Dilemma, vor allem aber auch um die ersten großen Gefühlsregungen und Freundschaften, die nichts und niemand trennen kann. In Kabul, Herat und Kandahar hingegen werden Millionen von Jugendlichen jäh aus ihren Träumen gerissen und von der Gegenwart eingeholt. Auf den zerbombten Pausenhöfen denken viele an eine Zukunft im Exil. Laut Angaben des Obersten Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlingshilfe (HCR) stammen über 2,6 Millionen der auf 70 Länder verteilt lebenden Flüchtlinge aus Afghanistan. Das Land nimmt damit auf der Liste der Exil-Herkunftsstaaten den 2. Platz ein. Für die Chance auf ein neues Leben in der Fremde nehmen Jugendliche und junge Männer den gefährlichen Weg auf sich, nicht zuletzt um ihren Familien in der Heimat zu helfen, sobald sie sicheren Boden unter den Füßen haben. Rückblende auf die riskante Reiseroute, welche die Jugendlichen in der Hoffnung auf ein besseres Leben im Ausland wählen.

 

Auf der Flucht – Wovor?

Seit den 80-er Jahren ist das Leben in Afghanistan mit nicht enden wollenden Konflikten verbunden. 1978 fällt das Land unter Kontrolle der Sowjetunion und wird daraufhin zum bevorzugten Kriegsschauplatz der Akteure des Kalten Krieges. Die Besetzung währt 14 Jahre, in dieser Zeit liefern sich von den Amerikanern ausgebildete Oppositionelle fortwährend Kämpfe mit den Sowjets. Als die russischen Truppen 1992 schließlich Afghanistan verlassen, wird das Land von einem Bürgerkrieg zerrüttet, welcher politische Instabilität und Militärinterventionen mit sich bringt.

Laut einer Studie der BBC werden aktuell 70% des Landes von den Taliban kontrolliert. Der Alltag der Bevölkerung wird von den Attentaten der Taliban bestimmt, um seine Kontrolle im Land auszubauen.  Aber auch der IS hat sich im Land angesiedelt und erzeugt durch religiöse Spannungen in zunehmendem Maße ein Klima der Unsicherheit. Betroffen davon ist vor allem die Schiitische Bevölkerung, welche oftmals zum Ziel von IS-Angriffen wird. Die afghanische Regierung gilt unter der Bevölkerung als umstritten: Im Jahr 2016 wurden 23% der 8397 zivilen Todesopfer bei Interventionen der internationalen Einsatzkräfte und durch Regierungstruppen getötet. Obwohl es Bemühungen seitens der Regierung gab, die Zahl der Todesopfer unter der Zivilbevölkerung zu begrenzen, ist die Zahl der verletzten und getöteten Zivilisten während der im Jahr 2017 geflogenen Luftangriffe im Vergleich zum Vorjahr um 50% gestiegen. Zwei Drittel der Opfer waren Frauen und Kinder. Die Bevölkerung sieht sich starkem Druck ausgesetzt: Einerseits werden die Menschen von bewaffneten Aufständischen angegriffen, auf der anderen Seite fordern Repressionen der Regierung und internationale Interventionen Todesopfer und Verletzte, Kinder werden zum Militärdienst herangezogen. Die fortwährende Unsicherheit hat auch negative Auswirkungen auf Gesundheit und Bildung. Frauen und junge Mädchen werden von bewaffneten Gruppierungen in aller Öffentlichkeit bestraft. Alle leben in ständiger Angst zum Opfer rebellischer Folter zu werden. Allein im Zeitraum zwischen Januar und Juni 2016 wurden laut Angaben der MANAU 26 Fälle bekannt, bei denen Menschen ausgepeitscht, geschlagen oder ohne Gerichtsverfahren hingerichtet wurden. Die Strafen wurden wegen vermeintlicher Missachtung der Scharia sowie aufgrund von Spionage oder Verbindung mit den Sicherheitskräften verhängt. Unter diesen Umständen verließen mehrere Millionen Afghanen das Land, manche Familie vertraut ihre Kinder Schlepperbanden an in der vagen Hoffnung, dass ihre Töchter und Söhne das ferne Europa erreichen mögen.

 

Odyssee bis in den Tod

 

„Ein One-way-ticket Iran-Griechenland macht 2500 Euro, Griechenland-Deutschland: 4000 Euro, Griechenland-Großbritannien: 6000 Euro, Griechenland-Schweden: 4000 Euro, Griechenland-andere europäische Staaten: 3500 Euro. Das Flugticket kostet etwa 12000 Euro.“ Die Schlepper verkünden ihre Preise, wie es jedes normale Reisebüro auch tun würde. Der einzige Unterschied besteht darin, dass hier eine Verschärfung des Konflikts durchaus erwünscht ist, da hiermit höhere Einnahmen erzielt werden könnten. Aufgabe der Schlepper ist es, die illegale Überfahrt der Flüchtlinge zu organisieren; jeder Streckenabschnitt und jeder Grenzübertritt werden ausgehandelt. Meist kontaktieren die Schlepper Familien, welche einen ihrer Söhne nach Europa schicken wollen, damit dieser nach seiner Ankunft seine Familie in der Heimat unterstützen soll. Die Eltern sind sich der Gefahren der Reise durchaus bewusst. Lieber nehmen sie jedoch dieses Risiko in Kauf, als ihr Kind in einem Kriegsgebiet aufwachsen zu sehen, wo es vielleicht zum Dienst an der Waffe verpflichtet würde. So war es auch bei Mohammed der Fall, der seine Söhne einem Schlepper anvertraute. Er fasst zusammen: „Falls Europa seine Grenzen schließt und meine Söhne in einem No-man’s-land zurückbleiben würden, wäre dies für sie dort immer noch sicherer als in Afghanistan. Die Überfahrt kann mit dem Tod enden – wer aber hier bleibt ist schon so gut wie tot.“

 

 

Sobald die Rechnung der modernen Sandmänner beglichen ist, beginnt ein wahrer Hindernislauf, dessen Hürden man sich vorzustellen vermag, wenn man die Seiten in Kotchok’s Buch überfliegt. Die Journalistin Claire Billet und der Fotograf Olivier Jobard haben 4 Monate lang Rohani, Jawid, Khyber Fawad und Luqman auf ihrer Flucht begleitet und ihre Gedanken und Impressionen in diesem Buch zum Ausdruck gebracht. Das Buch berichtet von den Hoffnungen, Ängsten aber auch von den Gefahrensituationen, welche die Jugendlichen überstanden haben. Man erfährt beispielsweise, dass man 48 Stunden lang ohne Schlaf und in der Kälte durch die Berge laufen muss um in den Iran zu gelangen.  Anschließend geht die Reise weiter durch die Türkei. Die Fahrt in einem Kleintransporter dauert etwa 8 Stunden. Danach werden die Kinder irgendwo auf einem Feld abgesetzt werden, von wo aus sie manchmal schnell vor der Polizei flüchten müssen. Letztendlich braucht es noch eine Menge Mut, sich mit 28 Weggefährten in ein wackeliges Schlauchboot zu setzen und die Überfahrt nach Europa zu anzutreten. 2017 sind 3100 Flüchtlinge in diesen kleinen Booten ums Leben gekommen. Zur Erschöpfung und den Gefahren kommt noch die Trennung von der Familie hinzu. Auch Haris (16) und Usman (17) wurden voneinander getrennt. Haris lebt bei seinem Onkel in England, während sein Bruder Usman seine Nächte, auf die Überfahrt nach England wartend, im Flüchtlingslager nahe Calais verbringt. Dies ist kein Einzelfall. Ganze Familien werden auseinandergerissen, sie leben aufgrund unterschiedlicher Reiserouten, Lager und Behördenprotokolle über ganz Europa verstreut. Aber was den Jungen am meisten Angst macht, ist ihr äußeres Erscheinungsbild. In Afghanistan sind Begegnungen zwischen Männern und Frauen außerhalb des familiären Umfeldes untersagt. Bei Feierlichkeiten oder Treffen werden kleine noch bartlose Jungen – auch „batcha boz“ genannt – geschminkt und herausgeputzt und zur Unterhaltung und als Lustobjekt missbraucht. Pädophilie ist ein Tabuthema in Afghanistan, auf der Reise kommt die Neigung jedoch erneut zum Vorschein und viele Kinder fallen Vergewaltigungen und Missbrauch zum Opfer.

 

Von den Tälern des Panjshir in die Barackensiedlungen

Wenn die jungen Flüchtlinge am Ziel ihrer von Ängsten und Leid geprägten Reise ankommen, sind sie oftmals auf sich allein gestellt. Dabei hatten sie sich erhofft hier endlich zur Ruhe zu kommen. Gemäß des Dubliner Abkommens dürfen Minderjährige, die nicht in Begleitung eines Erwachsenen in Europa einreisen nicht ausgewiesen werden. Die EU-Mitgliedstaaten berücksichtigen in dem Fall das Wohl des Kindes. Der große Flüchtlingsstrom der letzten Jahre lässt die Sozialdienste jedoch an ihre Grenzen stoßen, Asylverfahren werden nicht schnell genug in die Wege geleitet. Notunterkünfte entstehen in Bahnhöfen, wo Kinder und Erwachsene zusammenleben. Da Kindern ein besonderer Schutz zuteil wird, versuchen junge Erwachsene sich als Minderjährige auszugeben. Afghanische Kinder, die es nicht bis Europa geschafft haben leben weiter auf der Flucht oder werden zurück in den Iran oder nach Pakistan geschickt. 95 Prozent der afghanischen Flüchtlinge sammeln sich – auf beide Länder verteilt – an der afghanischen Grenze, wo sie in Zeltlagern notdürftig untergebracht sind. Bereits 2014 reiste der Fotograf Muhammed Muheisen nach Pakistan um vor Ort in den Slums von Islamabad einige Bilder aufzunehmen. Wenn man sich die Portraits anschaut nehmen die Statistiken und Prozentangaben, die wir zur Genüge aus den Nachrichten kennen, plötzlich Gestalt an. Da stehen sie – Noorkhan (6), Safia (4) und Khalzin (6), der seinen 3 Monate alten Cousin Zaman im Arm hält. Die Strapazen und das Leid spiegelt sich in ihren Gesichtern wider und stimmen betroffen. Ihr Blick verliert sich in der Ferne, ein Hauch kindlicher Unschuld ist darin noch zu erkennen. Der Krieg hat es nicht vermocht, diese letzten Kindheitserinnerungen auszulöschen. Der Kommandant Massoud, Symbol der afghanischen Widerstandsbewegung, schrieb 2013 in seinem Bekenntnis: „Wir alle sind das Produkt unserer Taten und die Summe unserer Träume. An jedem Checkpoint begegnen wir der afghanischen Jugend, die tapfer weiter kämpft und an den Träumen und den Glauben an eine friedliche Zukunft festhält. Die Zukunft ruht auf den schmächtigen Schultern dieser Jugendlichen – in den Händen dieser mutigen Kinder, diesen Löwen des Panjshir.

 

Geschrieben von: Florine Tirole

Übersetzt von: Anja Caky

 

Quellenangaben :

Amnesty International Rapport, 2017/2018, La situation des droits humains dans le monde, Afghanistan p.74 consulté le 20/04/2018 disponible à https://amnestyfr.cdn.prismic.io/amnestyfr%2Fc788e69b-ba85-4ba2-8c44-adfd8dd2e9d5_pol1067002018french.pdf

Amnesty International Rapport, 2016/2017, La situation des droits humains dans le monde, Afghanistan p.64 consulté le 20/04/2018 disponible à https://www.amnesty.ch/fr/sur-amnesty/publications/rapport-amnesty/annee/2016-2017/air201617-french_2017-02-14_11-24-01.pdf

CNews, 31/01/2018, Les Talibans menacent 70% du territoire Afghan, consulté le 20/04/2018 disponible à http://www.cnews.fr/monde/2018-01-31/les-talibans-menacent-70-du-territoire-afghan-773908

Libération, 04/02/2018, Afghanistan : l’interminable naufrage, consulté le 20/04/2018 disponible à http://www.liberation.fr/debats/2018/02/04/afghanistan-l-interminable-naufrage_1627374

Le Vif, 30/03/2016, La terrible décision de parents afghans: envoyer leurs enfants, seuls, vers l’Europe, consulté le 20/04/2018 disponible à http://www.levif.be/actualite/international/la-terrible-decision-de-parents-afghans-envoyer-leurs-enfants-seuls-vers-l-europe/article-normal-484071.html

Telerama, 01/02/2018, D’Afghanistan en France, ils ont suivi le périple de migrants, consulté le 20/04/2018 disponible à http://www.telerama.fr/jaidelesrefugies/d-afghanistan-a-la-grece-ils-ont-suivi-le-periple-de-migrants,131633.php

Tribune de Genève, 17/06/2016, Le périple fou des enfants afghans jusqu’à Calais, consulté le 20/04/2018 disponible à https://www.tdg.ch/monde/periple-fou-enfants-afghans-jusqu-calais/story/30464407

Infomigrants, 19/10/2017, Que se passe-t-il pour les „mineurs non-accompagnés“ qui arrivent en Europe ?, consulté le 20/04/2018 disponible à http://www.infomigrants.net/fr/post/5677/que-se-passe-t-il-pour-les-mineurs-non-accompagnes-qui-arrivent-en-europe

The Guardian, 28/01/2014, Muhammed Muheisen photographs Afghan refugee children in Islamabad – in pictures, consulté le 20/04/2018 disponible à https://www.theguardian.com/artanddesign/gallery/2014/jan/28/muhammed-muheisen-photographs-afghan-refugee-children-in-islamabad-in-pictures

 

Die Bibliographie:

Claire BILLET et Olivier Jobard, Robert Laffont, Paris, 2015, Kotchok : Sur la route avec les migrants

Olivier Weber, Flammarion, Paris, 2013, La confession de Massoud

Lisa Vitturi et Nouri Khan Zazaï, Les Edtions du Cygne, Paris, 2012, Je suis un Pachtoune d’Afghanistan: récit d’un jeune réfugié

Mortaza Jami, Vendemiaire, Paris, 2012, Je savais qu’en Europe on ne tire pas sur les gens. Itinéraire d’un réfugié afghan