Die Bildungskluft und die Diskriminierung in den französischen Überseegebieten

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Das Recht auf Bildung ist ein Grundrecht, das vom französischen Staat, der sich oft als Verfechter der Menschenrechte präsentiert, offiziell anerkannt ist. Dennoch ist dieses Recht in den Überseegebieten nach wie vor ungleich gewährleistet. Bildungsunterschiede lassen sich zwar teilweise durch soziale, kulturelle und wirtschaftliche Faktoren erklären, sie sind jedoch auch in einem tiefen liegenden rechtlichen Problem begründet, das kürzlich durch eine Entscheidung des Europäischen Ausschusses für soziale Rechte des Europarates aufgezeigt wurde. Über diese sozioökonomischen Ursachen hinaus lässt sich die anhaltende Ungleichheit durch einen Rechtsrahmen erklären, der die Überseegebiete von bestimmten grundlegenden Schutzmaßnahmen ausschließt.

Ein ungleich gewährleistetes Recht auf Bildung 

Frankreich hat die Europäische Sozialcharta von 1961 unterzeichnet, die verschiedene Grundrechte garantiert, darunter auch das Recht auf Bildung. Allerdings schloss Frankreich bei der Unterzeichnung seine Überseegebiete davon aus und hat diese Entscheidung seither nie revidiert.

Es wäre eine andere Vorgehensweise möglich gewesen: Die Niederlande haben dafür gesorgt, dass ihre Überseegebiete in den Genuss dieser Charta kommen. So gilt die Charta etwa auf der Insel Saint-Martin im niederländischen Teil, nicht aber im französischen. Laut der französischen Juristin Sabrina Cajoly ist dies „eine Frage der Gleichberechtigung zwischen den Gebieten, aber auch eine Frage des internationalen Ansehens für das Vaterland der Menschenrechte“ (Péru-Gelly, 2025).

Die Nationale Beratungskommission für Menschenrechte hat sich zu diesem Thema geäußert und dabei von einer „Kolonialklausel“ gesprochen. Diese Klausel ermöglichte es früher, einen bestimmten Teil eines Gebiets von der Gültigkeit eines Vertrages auszuschließen. Sie wurde verwendet, um den geografischen Geltungsbereich eines Gesetzestextes auf ein bestimmtes Gebiet zu beschränken, damit dieses einer besonderen Regelung unterliegt. Abschließend stellte sie klar, dass solche Klauseln insbesondere im Bereich der Menschenrechte nicht mehr existieren dürfen (Péru-Gelly, 2025). 

Der Europäische Ausschuss für soziale Rechte des Europarates hat am 19. März 2025 auf der Grundlage der Europäischen Sozialcharta eine Entscheidung bezüglich der Diskriminierung der Bevölkerung in den Überseegebieten Frankreichs getroffen.

Die Internationale Föderation für Menschenrechte (FIDH) hat beim Ausschuss eine Beschwerde gegen Frankreich wegen möglicher Verletzungen sozialer und wirtschaftlicher Rechte in Guadeloupe und Martinique eingereicht. Hierfür verwies die FIDH insbesondere auf Artikel 11 (Recht der Kinder auf Schutz) und Artikel E (Nichtdiskriminierung). Die französische Regierung hat die Zulässigkeit dieser Beschwerde mit der Begründung angefochten, dass die Charta nicht für die von der Beschwerde betroffenen Gebiete gelte (Europäischer Ausschuss für soziale Rechte, 2025).

Der Ausschuss kam zu dem Schluss, dass er über diesen Antrag nicht entscheiden könne, da der angeführte Text tatsächlich nicht für die Überseegebiete gelte, da Frankreich diese bei der Unterzeichnung ausgeschlossen habe (Lingibé, 2025).

Strukturelle Hindernisse: Armut, Isolation und kulturelle Besonderheiten

Aufgrund der unzureichenden Anzahl von Plätzen für Jugendliche findet bei der Aufnahme in das Schulsystem ein Auswahlverfahren statt (Péru-Gelly, 2025). Tatsächlich sind Gebiete ohne Straßenanbindung stärker von Schulabbrüchen betroffen, ebenso wie Kinder von Alleinerziehenden oder aus Familien ohne Zugang zu Wasser und Strom (Belanyi, & Plancke, 2024). So sind beispielsweise ein Viertel der 15- bis 19-Jährigen in Guadeloupe weder erwerbstätig noch in Ausbildung, das sind doppelt so viele wie in Frankreich (Chadli, 2023).

Geografische Isolation und Mängel im Schulverkehr

In den Antillen ist der Schulverkehr nicht an die Unterrichtszeiten angepasst (insbesondere für berufsbildende Schulen), sodass die Schüler für den Schulbesuch sehr früh aufstehen müssen (manchmal um 4 Uhr morgens), was weder ihrer Konzentrationsfähigkeit noch ihrer Erholung zuträglich ist (Lorion et al., 2021). Darüber hinaus ist dieser Transport meist teuer und auch gefährlich, da die Straßen in schlechtem Zustand sind (Chadli, 2023).

Am BeispieI einer Schule in Guyana, in Taluen nahe der Grenze zu Suriname, lassen sich die gravierenden logistischen Schwierigkeiten, mit denen die Schüler konfrontiert sind, verdeutlichen. Einige von ihnen müssen fast zwei Stunden mit dem Kanu zurücklegen, um zur Schule zu gelangen. Diese Bedingungen erschweren auch die Lieferung von Schulmaterial, das oft nicht wie geplant ankommt (FS-SNUipp, 2023).

Eine doppelte Benachteiligung: Unsichtbarkeit und Mangel an geeigneten Mitteln

Kinder mit Behinderungen haben ebenfalls mit bestimmten Schwierigkeiten zu kämpfen. Zunächst einmal ist das Erkennen dieser Schülergruppe aufgrund der mangelnden medizinischen und sozialen Infrastruktur kompliziert. Die Präventionsmaßnahmen werden daher nicht richtig umgesetzt und sind insbesondere im Hinblick auf Diagnose- und Orientierungsinstrumente unzureichend. 

Darüber hinaus verfügen die Ämter für Menschen mit Behinderung in diesen Departements (MDPH) nur über begrenzte Mittel, was zu sehr langen Wartezeiten bei der Umsetzung des angepassten Schulplans führt – laut Gewerkschaft SNES-FSU beträgt die Wartezeit für eine erste Rückmeldung mindestens sechs Monate (Lorion et al., 2021). Die unzureichenden Mittel führen dazu, dass die Bedürfnisse von Kindern mit Behinderung nicht erfüllt werden.

Laut den nationalen Bildungsbehörden benötigen 57 % dieser Schüler eine persönliche Betreuung. In Martinique beispielsweise hat die Hälfte der Schüler mit Behinderung keine Begleitperson. In Guadeloupe wurden 2021 nur zwei von 43 sehbehinderten oder autistischen Schülern betreut (Lorion et al., 2021).

Kulturelle Besonderheiten und klimatische Einschränkungen beim Zugang zu Bildung

Die Schulen tendieren zu häufigen Schließungen, wobei die vielfältigen Gründe oft mit den besonderen Merkmalen der betroffenen Gebiete zusammenhängen. Soziale Spannungen führen zu Streiks, die wiederholte Schließungen zur Folge haben. Darüber hinaus lassen klimatische und ökologische Bedingungen oft höhere Gewalt entstehen, die die Überseegebiete zusätzlich belastet. 

Im Jahr 2023 hatten 25 % der Schüler keinen ununterbrochenen Schulbesuch, gegenüber 5 % der Schüler in Frankreich (ohne Überseegebiete). Schüler in Guadeloupe und Martinique haben somit weniger Schultage als Kinder in Frankreich (Chadli, 2023). Der Klimanotstand hat nämlich bereits reale Auswirkungen auf die Umweltbedingungen in den Antillen.

Dies erfordert besondere Anpassungen, damit die Schulen den im Erdbebenplan für die Antillen vorgesehenen Normen entsprechen. Tatsächlich hinkt die Anpassung an die Erdbebensicherheitsstandards in den Antillen alarmierend hinterher. Im Jahr 2020 lernten 64 % der Schüler in Martinique in einer Umgebung, die von Erdbeben betroffen sein könnte (Lorion et al., 2021).

In einem Gymnasium im Westen Guyanas, das mehr als 1500 Schüler unterrichtet (bei einer maximalen Kapazität von 900 Schülern), liegt die durchschnittliche tägliche Abwesenheitsquote bei 20 %. Da die Abwesenheiten der Schüler oft nicht begründet werden und das Schulpersonal nicht in der Lage ist, täglich 300 Abwesenheiten zu bearbeiten, werden Fehlzeiten zur Normalität. (Lorion et al., 2021).

Wie sehen die Aussichten für eine gerechte Bildung in der Zukunft aus?

Die Schüler in den französischen Überseegebieten sind somit gegenüber denen im französischen Mutterland benachteiligt. Es wurden jedoch einige Initiativen ins Leben gerufen, um die Qualität der Bildung in den betroffenen Gebieten zu verbessern und so für mehr Ausgewogenheit zu sorgen.

Als eine Maßnahme könnte die Organisation von Nachholtagen dazu beitragen, dass Kinder in Frankreich und den Überseegebieten die gleiche Schulzeit erhalten. Darüber hinaus würde die Einrichtung von Internaten und speziellen Schulbussen mit angepassten Fahrplänen den praktischen Zugang zu Bildungseinrichtungen erleichtern (Chadli, 2023).

Ferner würde die Aufstockung der Zahl der Begleitpersonen für Kinder mit Behinderungen, ihre bevorzugte Anstellung in Vollzeitverträgen sowie die Konsolidierung ihrer Erstausbildung eine bessere Inklusion ermöglichen. Eine stärkere Sensibilisierung der Lehrkräfte für die Erkennung und Betreuung von Schülern mit Behinderungen könnte ebenfalls zu einer positiven Entwicklung beitragen (Chadli, 2023).

Auch den französischen Behörden kommt eine Schlüsselrolle zu. Eine Vereinheitlichung der Rechtsvorschriften und eine Gültigkeit für das gesamte französische Staatsgebiet – insbesondere im Hinblick auf die Anwendung der Menschenrechte – würde gleiche Chancen im Bereich des Rechts auf Bildung schaffen, ohne dabei klimatische und kulturelle Unterschiede außer Acht zu lassen (Péru-Gelly, 2025). Solche Reformen sollten auch mit einer ausdrücklichen Anerkennung der rechtlichen Gleichstellung aller französischen Gebiete ohne Ausnahme einhergehen.

Letztendlich widmen Organisationen wie Humanium ihre tägliche Arbeit dem Schutz der Kinderrechte und der Bereitstellung grundlegender Unterstützung, die von Bildung bis zur psychischen Gesundheitsversorgung reicht. Echte und nachhaltige Veränderungen erfordern sowohl ein globales Bewusstsein als auch lokales Handeln. Deshalb laden wir Sie ein, die Mission von Humanium zu unterstützen, sei es durch ein ehrenamtliches Engagement, eine Spende oder einer Patenschaft für ein bedürftiges Kind.

Verfasst von Morgane Schmutz

Intern überprüft von Aditi Partha 

Übersetzt von Margit Bertling

Übersetzung korrekturgelesen von Karolina Hofman

Bibliographie:  

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