Syriens explosive Kampfmittelrückstände gefährden eine Generation von Unschuldigen

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Der syrische Konflikt hat ein verheerendes Erbe an Blindgängern und Landminen hinterlassen, die eine anhaltende Bedrohung für das Leben von Kindern darstellen. In den ersten Monaten des Jahres 2025 hat sich die Situation verschlechtert. Allein in einem einzigen Monat wurden über 100 Kinder durch diese Kampfmittelrückstände getötet.

Historischer und politischer Hintergrund

Der Bürgerkrieg in Syrien begann 2011 mit Protesten der Bevölkerung gegen das langjährige Assad-Regime und eskalierte schnell zu einem brutalen, vielschichtigen Konflikt. Im Laufe der Jahre führten Kämpfe zwischen Regierungstruppen, verschiedenen Rebellengruppen und extremistischen Fraktionen – unter starker Beteiligung internationaler Akteure – zu Hunderttausenden von Toten und massiven Vertreibungen. Der Krieg hat das Land tief gespalten und verarmt zurückgelassen (CFR, 2024).

Die ohnehin schon katastrophalen Umstände wurden noch verschlimmert, als der ISIS nach seinem Rückzug aus Städten wie Raqqa ein tödliches Erbe hinterließ, indem er in der ganzen Stadt Minen verlegte. Die Gruppe legte diese Sprengsätze strategisch in fast allen Bereichen – einschließlich Straßen, öffentlichen Plätzen und Wohnvierteln – mit dem Ziel, Angst zu schüren, feindliche Vorstöße zu stören und die sichere Rückkehr der Bewohner, einschließlich der Kinder, zu behindern (Hanoush, 2018). 

In den letzten Jahrzehnten hat das Völkerrecht strenge Regeln für den Einsatz von Landminen aufgestellt. Wichtige Verträge, darunter das Übereinkommen über bestimmte konventionelle Waffen von 1980 und seine Ergänzungen von 1996, schreiben vor, dass Minen nur gegen legitime militärische Ziele eingesetzt werden dürfen (ICRC, n.d.). Zu ähnlichen Verträgen gehören das Ottawa-Übereinkommen über das Verbot von Antipersonenminen von 1997 und das Oslo-Übereinkommen über Streumunition von 2008 (ICRC, n.d.). 

Das letztere Übereinkommen verpflichtet Konfliktparteien, konsequent zwischen Zivilbevölkerung und Kombattanten zu unterscheiden, Operationen nur gegen militärische Ziele zu richten und stets darauf zu achten, Zivilisten und zivile Objekte zu verschonen. Auf der Grundlage dieser Konvention gilt Streumunition (z.B. explodierende und sich ausdehnende Geschosse und Antipersonenminen) als Waffenkategorie, die nach dem humanitären Völkerrecht verboten ist (ICRC, n.d.).

Syrien hat jedoch keine der genannten Konventionen unterzeichnet (UN, n.d.) und ist deshalb nicht an die Bestimmungen dieser Konventionen gebunden. Dies könnte den weit verbreiteten Einsatz von Landminen und Blindgängern (unexploded ordnance, UXO) im Land erklären. Syrien ist jedoch Vertragspartei des Übereinkommens über das Verbot chemischer Waffen (Chemical Weapons Convention, CWC), seine Beteiligung an verschiedenen internationalen Verträgen ist aber ein komplexes und umstrittenes Thema (OPCW, n.d.).

Das Ausmaß der Krise

Seit 2011 wurden in Syrien 3.471 Zivilisten, darunter 919 Kinder, durch Landminen getötet und mindestens 10.400 weitere verletzt. Viele Opfer benötigten Amputationen und Langzeitpflege. Der Einsatz von Landminen eskalierte nach dem Aufstand von 2011, insbesondere entlang der Grenzen zum Libanon und zur Türkei, und stellt nach wie vor eine ernsthafte Bedrohung dar, insbesondere für Binnenvertriebene, Mitarbeitern von Hilfsorganisationen und Zivilisten (Syrian Network for Human Rights, 2024).

Save the Children berichtete, dass innerhalb von zwei Tagen sieben Kinder in Syrien durch Landminen und Blindgänger getötet wurden. Vier Kinder starben in Idlib, nachdem ein Blindgänger in einer verlassenen Wohnung detonierte, während drei weitere in Homs getötet wurden, als eine Landmine auf einem Ackerland explodierte. Im Jahr 2022 wurden bei ähnlichen Vorfällen 22 Menschen, darunter sieben Kinder, getötet und 29 weitere, darunter drei Kinder, verletzt (Save the Children, n.d.).

Seit Beginn des Krieges ist Syrien das am stärksten mit Landminen, Blindgängern und explosiven Kampfmittelrückständen verseuchte Land. Die  Internationale Kampagne für das Verbot von Landminen und die Internationale Koalition zur Beseitigung von Streumunition (International Campaign to Ban Landmines – International Cluster Munition Coalition, ICBL-CMC) berichteten, dass Syrien im Jahr 2020 mit 2.729 Opfern, von denen die Hälfte Kinder waren, die weltweit höchste Zahl an Landminenopfern verzeichnete (The White Helmets, n.d.).

Tödliches Erbe von Blindgängern

Die Landschaft Syriens ist mit mehr als 300.000 Landminen und Blindgängern übersät, die das Leben von etwa fünf Millionen Kindern, die in kontaminierten Gebieten leben, gefährden. Der Konflikt hat zu über 422.000 gemeldeten Vorfällen mit Blindgängern in 14 Gouvernoraten geführt, wobei die Hälfte davon zu tragischen Todesfällen von Kindern führten. Die alarmierende Zahl der durch Blindgänger verletzten Kinder ist über die Jahre konstant geblieben und sind die Hauptursache für kindliche Todesfälle in Syrien (UN, 2025).

Eine systematische Analyse der Opfer unter Kindern im syrischen Bürgerkrieg ergab, dass Kinder bis zu 25 % der zivilen Opfer ausmachen und häufiger als Erwachsene Explosionsverletzungen durch Landminen und Blindgänger erleiden. Die Studie, in der 14.833 Kriegsopfer unter Kindern in 39 Studien untersucht wurden, ergab, dass Explosionsverletzungen die Hauptursache für lebensbedrohliche Verletzungen waren (Jhala et al., 2024).

Trotz Fortschritten in der Konfliktmedizin ist die Sterblichkeitsrate bei Kindern höher als bei Erwachsenen, was hauptsächlich auf ihre geringere Körpergröße und die begrenzte Ausbildung von Unfallchirurgen zurückzuführen ist. Der Syrienkonflikt, der durch Luftangriffe und Häuserkampf gekennzeichnet ist, hat die Risiken für Kinder weiter verschärft, da viele Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen zerstört wurden und die Last der Versorgung nun bei militärischen und humanitären Krankenhäusern liegt (Jhala et al., 2024).

Anhaltende psychologische Auswirkungen des Krieges auf Kinder

Der Bericht von Action on Violence über die Auswirkungen von Explosivgewalt auf die psychische Gesundheit von Kindern hebt die verheerenden langfristigen mentalen und emotionalen Auswirkungen solcher Gewalt hervor. Kinder, die direkter oder indirekter explosiver Gewalt ausgesetzt sind, leiden häufig unter Trauer, Wut, Selbstvorwürfen, Depressionen und Angstzuständen, wobei viele dieser Auswirkungen bis ins Erwachsenenalter anhalten. Studien zeigen, dass die Exposition gegenüber explosiver Gewalt bei 23 % bis 70 % der Menschen in Konfliktgebieten wie Syrien und Palästina zu posttraumatischer Belastungsstörung führt, wobei Kinder am stärksten gefährdetet sind (Hubbard, 2021).

Zu den langfristigen Folgen von explosiver Gewalt gehören toxischer Stress, eine gestörte kognitive und emotionale Entwicklung und gesellschaftliche Stigmatisierung. Betroffene Kinder haben oft Schwierigkeiten in der Schule, können nur schwer Beziehungen aufbauen und werden aufgrund von Behinderungen möglicherweise ausgegrenzt. Das Fehlen angemessener psychologischer Unterstützung in Konfliktgebieten verschärft diese Probleme, da es in Ländern wie dem Irak, Jemen, Libyen und Syrien an Kinderpsychiatern mangelt (Hubbard, 2021).

Ein tragisches Beispiel für diese psychologischen Auswirkungen ist die Geschichte von Abeer, einer jungen syrischen Witwe, die 2020 von der syrisch-amerikanischen Schriftstellerin Lina Sergie Attar interviewt wurde. Abeer lebte in einem Flüchtlingslager im Libanon und erzählte, wie ihr Mann 2015 bei einem Bombenanschlag getötet wurde, für den der IS die Verantwortung übernahm, und sie allein für ihre sechs Kinder sorgen musste. Das Trauma dieses Ereignisses hat ihre älteste Tochter derart tief getroffen, dass sie nach dem Tod ihres Vaters die Fähigkeit zu sprechen verlor. (ReliefWeb, 2021). 

Aufruf zum Handeln

Seit 2016 leitet der Syrische Zivilschutz (Weißhelme) die Bemühungen zur Beseitigung von Blindgängern. Ihre Teams führen Räumungseinsätze und Aufklärungskampagnen durch, um die Zivilbevölkerung über die Gefahren von Blindgängern zu informieren. Von 2021 bis 2022 führten die Weißhelme Hunderte von Einsätzen durch und zerstörten 859 Munitionskörper, darunter über 21.000 Streubomben. Tragischerweise sind vier Freiwillige bei Räumungseinsätzen ums Leben gekommen, was die damit verbundenen extremen Risiken verdeutlicht (The White Helmets, n.d.).

Humanitäre Organisationen fordern dringend internationale Unterstützung zur Finanzierung von Minenräumaktionen, Aufklärung über Minengefahren und Hilfe für Überlebende. Die Kosten für die Minenräumung, die auf mehrere zehn Millionen Dollar geschätzt werden, werden als geringer Preis im Vergleich zu den Leben angesehen, die gerettet werden könnten. Sofortige Investitionen in die Räumung von Sprengstoffen sind von entscheidender Bedeutung, um die Sicherheit der Gemeinden zu gewährleisten und den Wiederaufbau Syriens zu unterstützen.

Kinder zeigen zwar eine hohe Widerstandsfähigkeit angesichts explosiver Gewalt, doch ohne angemessene Unterstützung kann ein Trauma ihre Entwicklung stören und zu anhaltender Angst und sozialer Isolation führen. Angesichts des Mangels an Ressourcen für die psychische Gesundheit von Kindern in vielen von Konflikten betroffenen Regionen sind gezielte Maßnahmen – wie traumaorientierte Betreuung, gemeindebasierte Unterstützungssysteme und Bildungsprogramme – von entscheidender Bedeutung, um Kindern beim Wiederaufbau ihres Lebens zu helfen (Hubbard, 2021).

Wir setzen uns überall für den Schutz von Kindern ein. Wir glauben an eine Welt, in der jedes Kind in Sicherheit aufwachsen kann, Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung hat und die Möglichkeit hat, sich zu entfalten. Ihre Unterstützung – ob durch ehrenamtliche Arbeit, Spenden oder eine Mitgliedschaft – kann dazu beitragen, lebensrettende Initiativen fortzusetzen und dauerhafte Veränderungen für gefährdete Kinder auf der ganzen Welt zu bewirken.

Geschrieben von Lidija Misic

Übersetzt von Daria Hagemann

Korrektur gelesen von Beate Dessewffy

Quellenverzeichnis:

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