Kinder, die die Erfahrung einer Vertreibung machen, erleben erhebliche Probleme wegen ihrer Unsichtbarkeit in Asylverfahren und des Erwachsenenfokus des Migrationssystems. In seiner Untersuchung zum Thema “Das Kind im Kontext internationalen Flüchtlingsrechts“ (orig. „The Child in International Refugee Law“) wendet Jason Pobjoy ein dreifaches Prinzip des „Kindeswohls“ auf den Migrationskontext an – als unabhängige Schutzquelle, als ergänzende Schutzquelle und als umfassendes, staatlich generiertes Regelwerk (Pobjoy, 2017). Diese Anwendung zeigt das Potenzial des „Kindeswohl“-Prinzips, die bestehenden Lücken zu schließen und altersgerechten Schutz für vertriebene Kinder zu bieten, wenn die Staaten zustimmen, diesen Grundsatz in das internationale Flüchtlings- und Migrationsrecht aufzunehmen.
Das “Kindeswohl” als dreifaches Konzept
Artikel 3 (1) der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) bestimmt, dass „bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleich viel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist“ (UN-KRK, 1989). Er verankert also den Grundsatz des „Kindeswohls“ und bildet die Grundlage für das dreifache Konzept, das dieses Prinzip als materielles Recht, Verfahrensregel und grundlegendes, interpretatives Rechtsprinzip konstruiert (Ausschuss für die Rechte des Kindes, 2013).
Im Kontext von Migration könnte dieses Prinzip analog als unabhängige Schutzquelle, als ergänzende Schutzquelle und als umfassendes, staatlich generiertes Regelwerk interpretiert werden (Pobjoy, 2017). Diese drei Ansätze bieten ein hohes Maß an Alterssensibilität und das Potenzial, die oben genannten Lücken im Schutz vertriebener Kinder adäquat zu schließen.
Das Prinzip des “Kindeswohls” als umfassendes, staatlich generiertes Regelwerk (Auslegungshilfe)
Allgemein gefasst ist das als Auslegungshilfe angewandte „Kindeswohl“-Prinzip ein normenbildender Ansatz und verlangt von den Staaten eine alterssensible und inklusive Auslegung der angewandten Bestimmungen (Hathaway, o.D.). Eine alterssensible Beurteilung bezieht sich nicht nur auf eine bloße Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen; sie erfordert auch eine alterssensible Unterscheidung zwischen Kindern unterschiedlichen Alters (Van Bueren, 1995), die „seiner Entwicklung (…) angemessen“ ist (Artikel 5 KRK).
Darüber hinaus erfordert die altersgerechte Beurteilung, dass die Staaten die Qualifikationsanforderungen für internationalen Schutz überdenken und mit stärkerer Berücksichtigung des Alters neu definieren. Kinder erleben Schaden und Risiko auf unterschiedliche Weise und nehmen durch objektiv dasselbe Risiko größeren Schaden im Vergleich zu Erwachsenen (Mubilanzila Mayeka und Kaniki Mitunga vs. Belgien, 2006). Die Form des Schadens, den ein Kind erleidet, kann nur identifiziert werden, wenn die Auslegung der Bedingungen für internationalen Schutz die Perspektive des „Kindeswohls“-Prinzips mit den anderen materiellen Bestimmungen der KRK kombiniert.
In der Praxis bedeutet dies, dass Aussagen und Beweise, die von einem Migrantenkind vorgelegt werden, entsprechend der Entwicklung des Kindes (Artikel 5 KRK) in einer altersgerechten Weise berücksichtigt werden müssen. Ebenso muss eine andere Schwelle für „nicht wiedergutzumachenden Schaden“ und ein „reales Risiko“ für Kinder angewandt werden, und eine Bewertung muss in einer alters- und geschlechtssensiblen Art und Weise durchgeführt werden. Dies erfordert die Berücksichtigung der besonderen Vulnerabilität von Kindern und ihrer Sensibilität in Fragen wie dem Risiko von Unterernährung, Mangel an Bildung und Gesundheitsdiensten (Ausschuss für die Rechte des Kindes, 2005).
Das Prinzip sorgt als Auslegungshilfe für eine alterssensible Auslegung und Anwendung des migrationsrechtlichen Rahmens und hat das Potenzial, den vorherrschenden Erwachsenenfokus des migrationsrechtlichen Rahmens aufzulösen. Jedoch beschränkt es sich auf die inhaltliche und materielle Betrachtung eines Staates. Von den drei Ansätzen bietet der Auslegungshilfe-ansatz das niedrigste Niveau an angemessenem zusätzlichem Schutz für ein vertriebenes Kind, da er sich hauptsächlich auf die Auslegung materieller Definitionen bezieht, anstatt zusätzliche verfahrensrechtliche Verpflichtungen und Schutzmaßnahmen einzuschließen, die kinderspezifisch sind. Er hat daher einen erheblichen Einfluss auf die erwachsenenorientierte Auslegung und Lesart von Prinzipien und Bestimmungen des Migranten- und Flüchtlingsrechts, aber nicht das Potenzial, das Problem der Unsichtbarkeit des Kindes zu lösen.
Das „Kindeswohl“-Prinzip als ergänzende Schutzquelle (Verfahrensregel)
Die Auslegung des Prinzips als ergänzende Schutzquelle bietet eine zusätzliche Ebene des verfahrensrechtlichen Schutzes. Dies garantiert einen verfahrensrechtlichen Rahmen, der alterssensible Verfahrensregeln beinhaltet und hilft, den Schutz und das Wohl des Kindes zu sichern (McAdam, 2006). Im Zusammenhang mit vertriebenen Kindern beziehen sich altersgerechte Verfahrensregeln in der Perspektive der KRK auf die Umsetzung geeigneter gesetzlicher und administrativer Maßnahmen, die gewährleisten, dass eine mögliche Beeinträchtigung des Kindeswohls verhindert wird (Artikel 4 KRK).
In der Praxis bedeutet dies, dass die Staaten verpflichtet sind, ein altersabhängiges individuelles Bewertungsverfahren für die Gefährdung eines Kindes durchzuführen. Dies beinhaltet, dass die Staaten verpflichtet sind, die allgemeinen und individuellen Umstände eines vertriebenen Kindes zu beurteilen (Ausschuss für die Rechte des Kindes, 2005). Diese individuelle Einschätzung muss „unter Berücksichtigung der Bedürfnisse von Personen seines Alters“ (Artikel 37c, KRK) durchgeführt werden. Dies schließt auch die Einschätzung der Identität und des Alters sowie des Schutzbedarfs und der individuellen Umstände eines Kindes in einer altersgerechten und geschlechtersensiblen Weise am frühesten Punkt des Vertreibungsprozesses ein – an der Grenze (Ausschuss für die Rechte des Kindes, 2016).
Der Ausschuss für die Rechte des Kindes (CRC-Ausschuss) empfiehlt die Durchführung eines Verfahrens zur individuellen Begutachtung, räumt den Staaten jedoch einen Ermessensspielraum bei der Umsetzung solcher Maßnahmen ein, sofern sie nicht dem Ziel und Zweck der KRK widersprechen und die zugrunde liegenden Verpflichtungen vernachlässigen (Ausschuss für die Rechte des Kindes, 2003). Dazu gehört die Verpflichtung, das Recht des Kindes zu respektieren, seine Meinung zu äußern und diese Meinung entsprechend der Entwicklung des Kindes angemessen zu berücksichtigen (Committee on the Rights of the Child, 2005). Zusätzlich können Staaten zur Rechenschaft gezogen werden, da sie verpflichtet sind, die ausdrückliche Berücksichtigung des „Kindeswohls“ und dessen Beachtung bei jeder Entscheidung, die Kinder betrifft, zu begründen und zu beweisen (Ausschuss für die Rechte des Kindes, 2013).
Die Anwendung des Grundsatzes des „Kindeswohls“ als ergänzende Schutzquelle sorgt für eine zusätzliche alterssensible Ebene von Verfahrensregeln, die dazu beitragen, die Interessen des Kindes zu wahren. Sie haben das Potenzial, die Situation der Unsichtbarkeit von Kindern in Migrationsverfahren zu verbessern, indem sie die Ersteinschätzung von Kindern altersgerechter und partizipativer gestaltet. Jedoch berühren sie nicht die erwachsenenorientierte Auslegung des Migrationsrahmens, da es sich lediglich um Verfahrensregeln handelt.
Dieser Ansatz erzielt ein höheres Maß an verfahrensrechtlichem Schutz für Kinder und sollte als angemessener angesehen werden, um die besondere Vulnerabilität eines Kindes zu berücksichtigen. Dies geht jedoch mit einem zunehmend invasiven Charakter des Ansatzes einher und könnte aufgrund der Freiwilligkeit des Flüchtlings- und Migrantenschutzes zu einem Mangel an praktischer Anwendung und Konsens seitens der Vertragsstaaten führen.
Das „Kindeswohl“-Prinzip als unabhängige Schutzquelle
Das „Kindeswohl“-Prinzip würde, wenn es als unabhängige Schutzquelle angewendet würde, eine zusätzliche und eigenständige Kategorie von geschützten Personen schaffen – ein Sicherheitsnetz für Kinder. Wenn es im internationalen Migranten- und Flüchtlingsrecht anerkannt würde, würde es eine intrinsische Verpflichtung für Staaten schaffen, die direkt anwendbar ist (Self-executing-Regel) und vor Gericht geltend gemacht werden kann (Ausschuss für die Rechte des Kindes, 2013).
Die breite – fast universelle – Ratifizierung der KRK sorgt dafür, dass mehr Staaten rechtlich an ihre Bestimmungen gebunden sind. Daher würde das „Kindeswohl“-Prinzip eine Schutzquelle für Kinder als eine der verletzlichsten Personengruppen einführen, die eine hohe Anzahl von Staaten bindet. Zusätzlich sorgt die Unabdingbarkeit und der absolute Charakter des Prinzips für seine Anwendbarkeit in Situationen, in denen der Schutz, wie der Flüchtlingsschutz aus der Flüchtlingskonvention von 1951, ausgesetzt ist. Darüber hinaus schafft die Existenz eines Aufsichtsgremiums, des CRC-Ausschusses, die Möglichkeit, Staaten für die Nichteinhaltung der Verpflichtungen, die sich aus dem „Kindeswohl“-Prinzip ergeben, zur Rechenschaft zu ziehen und das Kind, wie von der KRK beabsichtigt, effektiv vor allen Formen von Schaden zu schützen.
Abgesehen davon stützen sich einige nationale Rechtsordnungen wie Australien und Neuseeland bei der Beurteilung des internationalen Schutzstatus bereits auf das Prinzip des „Kindeswohls“ und haben eine Kinderperspektive zur Beurteilung des Bedarfs an internationalem Schutz eingeführt (Pobjoy, 2015). Andere Staaten, darunter Schweden, Finnland und Norwegen, haben einen eigenen Schutzstatus für Kinder entwickelt, um die gesamte Bandbreite der besonderen Vulnerabilität von Kindern zu erfassen (Pobjoy, 2015).
Vertriebene Kinder werden immer noch oft als passive, stimmlose und abhängige Individuen betrachtet, die unsichtbar zu sein scheinen (Committee on the Rights of the Child, 2013). Die Etablierung des „Kindeswohls“-Prinzips als unabhängige Schutzquelle würde das Kind daher automatisch aus dieser passiven Rolle in die angestrebte aktive und unabhängige Rolle bringen. Das „Kindeswohl“ als dynamisches und flexibles Konzept ist für die dynamischen Herausforderungen der globalisierten Gesellschaft in hohem Maße geeignet und nimmt kinderspezifische Fragen der Migration in den Fokus.
Eine der identifizierten Herausforderungen für vertriebene Kinder ist die Erwachsenenperspektive, die die kinderspezifische Herkunft und die Formen der Verfolgung, das Schadensrisiko und andere Migrationsdefinitionen vernachlässigt. Nur die proaktive Natur der staatlichen Verpflichtungen, die im „Kindeswohl“-Prinzip verankert sind, hat das Potenzial, die besondere Vulnerabilität von Kindern vollständig anzuerkennen, die Kinder zu identifizieren, die einen solchen Schutz benötigen, und das Kind in diesen Prozess einzubeziehen (Ye vs. Minister of Immigration, 2009).
Als allgemeines Prinzip der KRK muss es in Verbindung mit allen Bestimmungen der KRK gelesen werden und sieht daher eine umfassende Reihe an zivilen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechten für Migrantenkinder vor, die in den Bereich des unabhängigen Schutzes von Artikel 3 (1) KRK fallen – „das Wohl des Kindes“. Die KRK wird als „ein wertvoller Rahmen […] für jede Betrachtung von Asylfragen, die Kinder betreffen“ beschrieben und bietet „vielleicht die anspruchsvollsten Standards für den Schutz und die Unterstützung von Kindern unter allen internationalen Rechtsinstrumenten“ (Feller, 2001).
Die Anwendung des „Kindeswohls“-Prinzips als unabhängige Schutzquelle hat normgebenden Charakter, der einen Schutzbereich für Kinder vorsieht, der weiter reicht als die bestehenden Schutzregelungen. Es hat das Potenzial, sowohl die Unsichtbarkeit eines Kindes in Migrationsverfahren als auch die erwachsenenfokussierte Auslegung des Migrationsrahmens abzuschaffen.
Alle drei Anwendungskonzepte des „Kindeswohl“-Prinzips würden das bestehende internationale Rahmenwerk für Migranten und Flüchtlinge um ein gewisses Maß an Alterssensitivität erweitern. Das als unabhängige Schutzquelle angewandte Prinzip bietet den höchsten Grad an Durchführbarkeit, um die bestehenden Lücken der Unsichtbarkeit und des Erwachsenenfokus in einer altersgerechten Weise zu füllen. Alternativ kann empfohlen werden, die interpretative und prozedurale Anwendung des Prinzips zu kombinieren, um den bestehenden Migrations- und Flüchtlingsrahmen zu erweitern, so dass ein alterssensibles Verfahren und eine altersgerechte Auslegung der Bestimmungen in die Bewertung des internationalen Schutzes einbezogen werden.
Jedoch steht die Einbeziehung des „Kindeswohls“ als unabhängige Schutzquelle, als ergänzende Schutzquelle und als umfassendes, staatlich generiertes Regelwerk in das internationale Schutzregime vor erheblichen Herausforderungen. Eine der vorrangigen Herausforderungen ist die fehlende staatliche Zustimmung, da sich Staaten nur widerwillig für die Ausweitung des traditionellen Flüchtlings- oder Migrationsschutzes entscheiden, da dies mit der Aufgabe von Teilen der staatlichen Souveränität einhergeht.
Lassen Sie uns jetzt handeln
Trotz einer quasi universellen Anerkennung der Kinderrechte und des Kindes als individuellem Rechtsträger in der UN-Kinderrechtskonvention ist die Umsetzung und Anerkennung dessen an der Schnittstelle zwischen Kinderrechten und Flüchtlings- und Migrationsrecht noch weit entfernt. Die Staaten müssen das bestehende internationale Flüchtlings- und Migrationsrecht erweitern, um einen effektiven und altersgerechten Schutz von Migrantenkindern zu gewährleisten.
Als Mitglied von Child Rights Connect (CRC), der Organisation, die die UN-Kinderrechtskonvention ausgearbeitet hat, setzt sich Humanium nachdrücklich für den Schutz gefährdeter Kinder weltweit ein und macht sich für eine Welt stark, in der die Kinderrechte universell und effektiv eingehalten, geschützt und durchgesetzt werden. Sie können dabei helfen, auf die Belange von Kindern in der Welt aufmerksam zu machen, indem Sie Humanium unterstützen – durch eine Patenschaft für ein Kind, eine Spende, eine Mitgliedschaft oder eine ehrenamtliche Tätigkeit.
Verfasst von Alexander Weihrauch
Übersetzt von Jana Wegener
Weitere Informationen:
Pobjoy, J. (2017),” The Child in International Refugee Law”, Cambridge Asylum and Migration Studies.
Pobjoy, J. (April 2015), “The best interests of the child principle as an independent source of international protection”, ICLQ vol 64.
Bibliographie:
1989 United Nations Convention on the Rights of the Child
Feller, E. (1 March 2001), Statement delivered to the EU Seminar on Children affected by Armed Conflict and Displacement in Sweden, in: Pobjoy, J. (April 2015), “The best interests of the child principle as an independent source of international protection”, ICLQ vol 64., p. 363.
Hathaway, J.(n.d.), acknowledged in: Pobjoy, J. (April 2015), “The best interests of the child principle as an independent source of international protection”, ICLQ vol 64.
McAdam, J, “Complementary Protection in International Refugee Law”, Oxford University Press, 2006, 173 in: Pobjoy, J. (April 2015), “The best interests of the child principle as an independent source of international protection”, ICLQ vol 64., p. 334.
Pobjoy, J. (2017),” The Child in International Refugee Law”, Cambridge Asylum and Migration Studies
Pobjoy, J. (April 2015), “The best interests of the child principle as an independent source of international protection”, ICLQ vol 64.
Van Bueren, G (1995), “Opening Pandora’s Box: Protecting Children against Torture or Cruel, Inhuman and Degrading Treatment or Punishment”, 17 Law and Policy 378, 385.
Ye v Minister of Immigration (2009), NZSC 76, para. 50, in: Pobjoy, J. (April 2015), “The best interests of the child principle as an independent source of international protection”, ICLQ vol 64., p. 345.