Die Kinderheirat ist eine schwerwiegende Verletzung des Rechtes jedes Kindes seine Unabhängigkeit und sein volles Potenzial zu erreichen. Ungefähr 650 Millionen junge Mädchen werden vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet (UNICEF, 2018). Heutzutage ist diese Praxis zwar in vielen Ländern zurückgegangen, aber in Subsahara Afrika, wo Kinderheirat immer noch eine gängige Praxis ist, vollzieht sich dieser Rückgang nur langsam.
Die kritische Lage im Niger
Es wird geschätzt, dass 76% der Mädchen im Niger verheiratet werden bevor sie 18 Jahre alt sind und 28% werden zu Bräuten bevor sie 15 Jahre alt sind (Rate von Kinderehen im Niger, s.d.). Laut UNICEF hat der Niger weltweit die höchste Rate an Kinderehen und positioniert sich damit an der Spitze des internationalen Rankings. Kinder in ländlichen Gebieten sind im Niger stärker betroffen als in städtischen Gebieten. Abgesehen davon sind gebildete Mädchen dieser Praxis in der Regel weniger ausgesetzt als diejenigen, die keine Möglichkeit hatten, die Schule zu besuchen. Je ärmer die Familie ist desto eher wird ein Mädchen aus wirtschaftlichen Gründen dieser Praxis ausgesetzt. (World Bank, n.d.)
Die Rechtsgrundlage für Kinderehen im Niger
Die Kinderheirat im Niger wird im Familienrecht behandelt, einem Rechtszweig, der sich aus verschiedenen Quellen zusammensetzt: dem Zivilgesetzbuch, Bräuchen, und internationalen Rechtsinstrumenten. Gemäß des Bürgerlichen Gesetzbuches beträgt das Mindestheiratsalter 18 Jahre für Jungen und 15 Jahre für Mädchen, was auf ein starkes geschlechtsspezifisches Gefälle hinweist. Die meisten Vermählungen finden jedoch nach Gewohnheitsrecht statt.
Eine Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuches erhöhte das gesetzliche Heiratsalter für Jungen und Mädchen auf 21 Jahre (Zivilgesetzbuch, Art. 144, 148 und 158), auch wenn Kinder mit Zustimmung ihrer Eltern nach wie vor in jüngerem Alter verheiratet werden können. (OECD, s.d.). Darüber hinaus verhängt das Gesetz keine Sanktionen für Kinderehen. Die Richter*innen haben kein Rechtsinstrument, mit dem sie eine Ehe annullieren können, wenn ein Mädchen Maßnahmen ergreift (die Ehe kann nach einem Jahr entweder von den Eltern oder von dem Mädchen selbst angefochten werden).
Soziokulturelle und ökonomische Faktoren
Nafissa ist ein nigerianisches Mädchen, das als 14-Jährige mit einem 34-jährigen Mann verheiratet war, den sie nicht kannte. Sie ist jetzt 22 Jahre alt und erinnert sich, wie ihr Mann sie geschlagen und zu einer sexuellen Beziehung gezwungen hat. Nachdem Nafissa bei der Entbindung ein Kind verloren hatte und zum zweiten Mal schwanger wurde, beschloss sie zu fliehen: „In der Schule war ich gut. Ich habe in der Schule eine gute Note bekommen und ich erinnere mich, dass das ein guter Tag war. Bis alle anfingen mich „junge Braut“ zu nennen! „Junge Braut!“ und ich erkannte, dass ich die Schule verlassen musste, weil ich verheiratet werden würde.“ (Aljazeera, s.d.)
Die Verheiratung von Mädchen in jungen Jahren soll verhindern, dass sie außerehelich schwanger werden, was als Quelle der Schande für eine Familie gilt. Die Ehe wird von der Gemeinschaft geschätzt, weil sie den Frauen, die im Allgemeinen als Ehefrauen und Mütter angesehen werden, einen sozialen Status verleiht: ihre Rolle liegt im Haushalt, im Dienste des Ehemannes und der Kinder. Viele Familien investieren in die Ausbildung und Zukunft ihres Sohnes, während sie ihre Töchter die Hausarbeit machen lassen, eine Tätigkeit, die keine Schulbildung erfordert.
Darüber hinaus betrachtet die Mehrheit der Eltern die Schule als einen Ort voller Gefahren für junge Mädchen. In bestimmten Gebieten, darunter im ländlichen Marake, sind einige Menschen der Meinung, dass Mädchen vor ihrer ersten Regelblutung verheiratet werden sollten, da blutverschmierte Kleidung als Verlust der Jungfräulichkeit empfunden werden kann, was Schande über die Familien bringt. Die Kinderheirat soll die Würde eines Mädchens schützen und seine Jungfräulichkeit bewahren. (Girls not Brides, s.d.)
Abgesehen davon wird die Kinderheirat oft als ein Mittel zur Verringerung der finanziellen Belastung von Eltern mit geringem Einkommen betrachtet, da die Ehe selbst eine Einkommensquelle darstellt. Die Verheiratung der Töchter ist eine elterliche Strategie des wirtschaftlichen Überlebens.
Nigers Verpflichtungen zur Beendigung der Kinderheirat
Niger verpflichtete sich zur Abschaffung der Kinderheirat bis 2030 im Einklang mit den nachhaltigen Entwicklungszielen, der Blaupause für eine bessere und nachhaltigere Zukunft für alle. Einige Änderungen und Gesetzesreformen wurden bereits vollzogen. 2014 unterzeichnete der Niger eine gemeinsame Erklärung beim Menschenrechtsrat, in der eine Resolution zur Kinderheirat gefordert wurde (OHCHR, 2014), in der allgemeinen regelmäßigen Überprüfung des Menschenrechtsrates im Jahr 2016 wurden Bedenken über die hohe Rate der Kinderehe geäußert und der Niger unterstützte die folgenden Empfehlungen zur Verabschiedung eines Familiengesetzes, das Mädchen vor dieser Praxis schützen und das gesetzliche Mindestalter auf 18 Jahre anheben würde.
Im Jahr 2017 wurde die nigerianische Regierung aufgefordert Daten zur Kinderheirat zu erfassen und Richter*inne, Staatsanwält*innen und die Polizei zu schulen, um sicherzustellen, dass Täter*inne der Kinderheirat bestraft werden. (UNICEF, Ending child marriage Niger, s.d.)
Was kann noch getan werden?
Obwohl der Niger das Land in Afrika mit der höchsten Rate an Kinderehen ist und die Statistiken besorgniserregend sind, duldet das Land offiziell keine solche Praxis und hat sich verpflichtet, die Kinderheirat einzuschränken oder – besser noch – sie abzuschaffen. Der Niger hat viele internationale Verträge unterzeichnet und ratifiziert, aber es bleibt noch viel Arbeit zu tun, um diese Gesetze in die Praxis umzusetzen.
Es ist sehr wichtig, dass Mädchen befähigt werden und sich ihrer Rechte bewusst werden, um diese konservative Kultur zu überwinden, die sie zu Opfern solcher Praktiken macht. Die Ermächtigung von Mädchen könnte dazu beitragen, die Praxis zu reduzieren. Jedes Mädchen hat das Recht, über seine eigene Zukunft zu entscheiden, aber nicht jedes Mädchen ist sich dem bewusst. Wenn Mädchen von ihren Fähigkeiten überzeugt und mit Wissen ausgestattet sind, sind sie in der Lage sich zu erheben und „Nein“ zu sagen und für ihre Freiheit und Unabhängigkeit zu kämpfen.
Da eine der Ursachen für Kinderehen wirtschaftliche Schwierigkeiten sind, könnte die Bereitstellung von Erwerbsmöglichkeiten, wie Kleinkredite, für Familien Kinderheiraten, die aus finanzieller Not entstehen, verhindern. Sobald die finanzielle Situation der Familien stabil ist, würden die Töchter nicht mehr als wirtschaftliche Belastung angesehen, und die Eltern könnten ihnen erlauben zur Schule zu gehen und eine Ausbildung zu erhalten, um Fähigkeiten zu erwerben, die der Familie eine profitable Zukunft sichern.
Durch seine zahlreichen Projekte arbeitet Humanium in lokalen und ländlichen Gemeinden, um vor Ort zu Veränderungen mit dem Ziel der Verbesserung des Lebens von Kindern beizutragen. Eines dieser Projekte, ein Projekt in Ruanda, zielt darauf ab, die Rechte von Kindern zu verbessern und zu schützen, indem es dort Psychologe*inne und
Sozialarbeiter *innen unterstützt, die selbst Familien und Kinder in Not unterstützen. In den Jahren 2018 und 2019 hat Humanium persönlich mit vielen Kindermüttern in Ruanda gearbeitet und wird ermutigt, diese Arbeit in naher Zukunft fortzusetzen. Helfen Sie uns, zur Erfüllung der Rechte junger Mädchen auf der ganzen Welt beizutragen. Erwägen Sie eine Spende, werden Sie Mitglied von Humanium oder treten Sie Humanium als Freiwilliger bei. Lasst uns die Welt zu einem besseren Ort für Kinder machen!
Geschrieben von Ginevra Vagliani
Übersetzt von Latika Rodway-Anand
Korrektur gelesen von Andrea Quaden
Bibliografie:
World Bank. (n.d.). Girls‘ education overview. https://www.worldbank.org/en/topic/girlseducation
Child marriage rate in Niger. (n.d.). Retrieved from girlsnotbrides: https://www.girlsnotbrides.org/child-marriage/niger/
Girls Not Brides. (n.d.). Retrieved from Niger: https://www.girlsnotbrides.org/child-marriage/niger/
Niger. (n.d.). Civil Code art. 144, 148 and 158.
OECD. (n.d.). Social Institution Gender Index. Retrieved from https://www.genderindex.org/wp-content/uploads/files/datasheets/2019/NE.pdf
OHCHR. (2014). Preventing and eliminating child, early and forced marriage.
UNICEF. (2018). Child Marriage – latest trends and future prospects. UNICEF.
UNICEF. (n.d.). Ending child marriage Niger. Retrieved from https://www.unicef.org/niger/stories/ending-child-marriage-niger
Aljazeera. (n.d.). Retrieved from https://interactive.aljazeera.com/aje/2018/child-marriage-niger/index.html