Neueste Daten deuten darauf hin, dass über 30 % der Kinder in den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) bis zu ihrem 18. Lebensjahr in eine Untersuchung der Kinderfürsorge verwickelt sein werden (Human Rights Watch, 2022). Die Art dieser Untersuchungen ist umfangreich und reicht von Berichten über mutmaßlichen Missbrauchs bis hin zu Untersuchungen von bekannten Misshandlungen. Zu den häufigsten Formen der Kindesmisshandlung gehören Vernachlässigung und elterlicher Drogenmissbrauch, welche jeweils 75 % und 34 % aller Fälle von Kindesentzug im Jahr 2019 ausmachten (Human Rights Watch, 2022).
Internationale Menschenrechtsstandards
Die Probleme der Kinderfürsorge der Vereinigten Staaten haben auf internationaler Ebene Aufmerksamkeit erregt. Im Jahr 2022 hat der Ausschuss für die Beseitigung von Rassendiskriminierung über die hohe Anzahl von Kindern von Minderheiten, die im ganzen Land in Pflegefamilien untergebracht sind, seine Besorgnis ausgedrückt (Ausschuss der Vereinten Nationen für die Beseitigung der Rassendiskriminierung, 2022).
Diesbezüglich gibt es jedoch ein Problem. Der Ausschuss für die Rechte des Kindes, der weltweite Standardsetzer für die Rechte des Kindes hat wiederholt betont, dass die Trennung von der Familie bei Fällen von Kindesmisshandlung das letzte Mittel sein sollte (Human Rights Watch, 2022). Die Vereinigten Staaten haben die UN-Kinderrechtskonvention (KRK) zwar unterzeichnet, aber nicht ratifiziert. Das bedeutet, dass das Land seine Absicht bekundet hat die Bestimmungen einzuhalten, ohne jedoch irgendwelche bindenden Verpflichtungen zur Umsetzung von Veränderungen einzugehen (Ausschuss der Vereinten Nationen für die Beseitigung der Rassendiskriminierung, 2022).
Daher werden die Bestimmungen der KRK, wie z.B. Artikel 19, der betont, dass Armut „nicht als Begründung benutzt werden darf, um Kinder von ihren Eltern zu trennen” und der das Recht eines Kindes schützt, von seinen Eltern betreut zu werden „soweit dies möglich ist“, innerhalb des Landes nicht umgesetzt (Human Rights Watch, 2022).
Schutz des Undefinierten – was ist Kinderfürsorge?
Die uneinheitlichen Finanzierungsmethoden des Kinderfürsorgesystems sind jedoch bloß ein Teil eines größeren Problems. Die Struktur der Richtlinien, die das System ausmachen, behindert oft eher eine Familienzusammenführung, als dass es sie ermöglicht.
Behörden können zum Beispiel Kinder in Pflegefamilien unterbringen und den Eltern die Kosten in Rechnung stellen (Augsberger, 2022). Mangels einer klaren Definition bestraft das Kinderfürsorgesystem Familien in Armut unverhältnismäßig stark, indem sie die kontextuellen Herausforderungen als „Vernachlässigung” bewerten (Naveed, 2022).
Bei fast drei Vierteln aller Übermittlungen an die Kinderfürsorge handelt es sich um Vernachlässigung, und dazu gehören häufig Fälle, in denen es Eltern nicht möglich ist, sichere Wohnverhältnissen zu schaffen, oder die gezwungen sind, viele Stunden zu arbeiten: Beispiele alltäglicher Herausforderungen für den durchschnittlichen US-Staatsbürger (Naveed, 2022). Eine derartige Darstellung von Kindesmissbrauch lässt es zu, dass die ärmsten Bevölkerungsgruppen des Landes – und insbesondere Angehörige ethnischer Minderheiten, gegen die eher ermittelt wird, selbst wenn die Armutsquote gering ist – Opfer von Nachforschungen wegen Vernachlässigung werden.
Den Familien werden nur selten rechtliche Mittel zur Verfügung gestellt, um diese Verfahren im entscheidenden frühen Stadium angemessen anzufechten (Naveed, 2022). Dieses Phänomen wird als „Bewaffnung” oder „Politisierung“ des Kinderfürsorgesystems bezeichnet (Knispel, 2020).
Kinderfürsorge in Aktion
Abgesehen von den schriftlichen Regelungen, die das Kinderfürsorgesystem ausmachen, kreieren seine Akteure weitere Herausforderungen für einige der am meisten gefährdeten Bevölkerungsgruppen des Landes. Das Eingreifen der Kinderfürsorge beginnt oft mit der Meldung eines Vorfalls oder einer Beobachtung bei einer der nationalen Hotlines. Diese können anonymisiert werden, um so Meldungen zu ermutigen, obwohl das auch zu Falschmeldungen führen kann, da es kaum Möglichkeiten zur Überprüfung gibt (Human Rights Watch, 2022).
Wenn einmal eine Untersuchung eingeleitet wurde – fast 3,5 Millionen Kinder wurden im Jahr 2019 untersucht – achten die Behörden selten ausreichend darauf, die Möglichkeit eines Traumas und negativer soziologischen Auswirkungen auszuschließen (Human Rights Watch, 2022). Spontane Haus- oder Schulbesuche, Leibesvisitationen und invasive Durchsuchungen können ein Kind stigmatisieren und seine Beziehungen gefährden, während sie ihm gleichzeitig psychischen Schaden zufügen (Human Rights Watch, 2022).
Diese Untersuchungen geschehen oft ohne juristische Aufsicht und ohne rechtlichen Schutz, so dass Hauptbezugspersonen während der ersten Phasen der Eingriffe der Kinderfürsorge keine Unterstützung erhalten und der Gefahr der Ausbeutung ausgesetzt sind (Human Rights Watch, 2022). Stattdessen wird die Ermittlungsarbeit oft von Sozialarbeitern durchgeführt, die die sich in einem inhärenten Interessenskonflikt befinden.
Einerseits sind sie dafür verantwortlich, Eltern und Familien zu unterstützen, andererseits sind sie die Ankläger des Fehlverhaltens (Human Rights Watch, 2022). Justizbeamte und Richter entscheiden über die potenzielle Rückführung der Pflegekinder. Aber in dieser Phase wurde das Zuhause der Bezugspersonen bereits auseinandergerissen und das System unternimmt wenig, um Eltern und Pflegepersonen bei der Betreuung ihrer Kinder zu unterstützen (Human Rights Watch, 2022).
Ein landesweites Problem
Die vom Kinderfürsorgesystem stammenden Probleme sind in den gesamten USA zu spüren. Das zeigt sich vielleicht am besten durch die Vielzahl von Kindern, die nach Misshandlungen aus ihrem Zuhause herausgenommen und in Pflegefamilien untergebracht werden. Fast alle drei Minuten wird landesweit ein Kind in einer Pflegefamilie untergebracht und mehr als eine Viertelmillionen Kinder geraten jedes Jahr in das System (Human Rights Watch, 2022).
Stand 2019 warten 70.000 Kinder auf eine Adoption, weil ihren Eltern die Rechte entzogen wurden. Diesen „gesetzlichen Waisen” fehlt Beständigkeit und sie sind ernsthaften Risiken für ihre langfristige Gesundheit ausgesetzt – ein direkter Widerspruch zum erklärten Ziel des Kinderfürsorgesystems (Human Rights Watch, 2022).
Das Ausmaß der Probleme der Kinderfürsorge ist nicht unbeachtet geblieben. Die Regierung der Vereinigten Staaten investierte 33 Milliarden US-Dollar in das System im Jahr 2018 und die Regierung Biden erweiterte Steuergutschriften für Familien mit Kindern, um zu gewährleisten, dass die meisten in der Lage sind, über 3.000 US-Dollar von der Geburt eines Kindes bis zum vollendeten 17. Lebensjahr zu beanspruchen (Augsberger, 2022).
Die Finanzspritzen endeten dort nicht: Konjunkturzahlungen unterstützten die meisten Familien im ganzen Land nach der Coronapandemie und eine weitere Finanzhilfe wurde in Form eines „Bedürftige Familien” Programms bereitgestellt, welches ungefähr 20 % der ärmsten Familien der Bevölkerung vorübergehend unterstützte (Augsberger, 2022). Jedoch ließ der Kongress das erfolgreiche Kindersteuergutschriftensystem auslaufen (Augsberger, 2022). Die Finanzierung für das Programm „Bedürftige Familien” wurde daher um bis zu 40 % gekürzt, was zu großen Unterschieden bei der Unterstützung führt, die Familien erhalten können: Eine dreiköpfige Familie in Alabama bekommt möglicherweise nur 215 US-Dollar im Vergleich zu einem vergleichbaren Haushalt in New Hampshire (Augsberger, 2022).
Systematischer Rassismus gegenüber Kindern von Minderheiten in den Vereinigten Staaten
Aufgrund seiner engen Verbindung zur wirtschaftlichen Gleichstellung benachteiligt das Kinderfürsorgesystem ungerechterweise Kinder, die einer Minderheit angehören. Ferner werden Familien in verarmten Gemeinden häufiger von Sozialdiensten betreut, weil sie Hilfe benötigen. Neueste Analysen zufolge war das Wohlstandsgefälle zwischen schwarzen und weißen Familien in den Vereinigten Staaten 2016 genauso groß wie 1968 und hat sich nach der Coronapandemie möglicherweise noch vergrößert (Human Rights Watch, 2022).
Obwohl sie nur 14 % der Kinder des Landes ausmachen, sind schwarze Kinder in einem Viertel aller Fälle von Kindesmissbrauchs- oder -vernachlässigung betroffen und über 20 % der Kinder in Pflegefamilien sind schwarz (Human Rights Watch, 2022). In einigen Staaten ist diese Gegebenheit sogar noch extremer: in New York sind fast 40 % aller Pflegekinder schwarz, obgleich sie nur 15 % der Bevölkerung ausmachen. Im Gegensatz dazu sind weniger als die Hälfte der Pflegekinder weiß, obwohl sie ca. 50 % der Gesamtbevölkerung im Kindesalter ausmachen (Human Rights Watch, 2022).
Rassistische Ungleichheiten sind nicht auf schwarze und afroamerikanische Kinder begrenzt. Indigene Kinder sind seit langem einer aggressiven Indoktrination ausgesetzt, weil die Vereinigten Staaten Druck auf die Kinder in Schulen der Indigenen ausüben, damit sie sich den neueren amerikanischen und kulturellen Werten und Überzeugungen anpassen (Human Rights Watch, 2022). Dieser Prozess führte dazu, dass Traditionen gebrochen und Lebensweisen gestört wurden, was wiederum zur Folge hatte, dass eine überwältigende Anzahl indianischer Kinder in Heimen untergebracht wurde.
Künftige Maßnahmen
UN-Leitlinien für die alternative Betreuung von Kindern legen fest, „die Herausnahme eines Kindes aus der Obhut der Familie sollte als die letztmögliche Maßnahme betrachtet werden und wann immer möglich, sollte sie vorübergehend und von möglichst kurzer Dauer sein” (Human Rights Watch, 2022). Momentan verstößt das Kinderfürsorgesystem der Vereinigten Staaten direkt gegen diese Aussage und zwingt die Gemeinden dazu, sich aus den Fängen der Armut zu befreien, wenn sie die Primärversorgung für ihr Kind behalten möchten (Naveed, 2022). Um Familien wieder zusammenzuführen und die unnötige Unterbringung von Kindern in einem Pflegesystem zu verhindern, müssen die Vereinigten Staaten (Human Rights Watch, 2022):
- Die Meldepflicht einschränken, um die übermäßige Überwachung verarmter Gemeinden zu reduzieren und den Schwerpunkt stärker auf die Reduzierung von Eingriffen durch Unterstützung bedürftiger Familien zu legen
- Versuchen die Familieneinheit so weit wie möglich aufrechtzuerhalten, wobei der Schwerpunkt auf der Bekämpfung von wirtschaftlicher Not und systemischer Rassenungerechtigkeit liegt
- Die Begriffe Kindesmissbrauch und Vernachlässigung genauer definieren, um das Risiko der Kindesmisshandlung und die Konsequenzen der Armut zu trennen
- Genauere Daten über die Ungerechtigkeiten des Kinderfürsorgesystems sammeln, um das Bewusstsein zu schärfen und Wege für eine positive Veränderung zu ermitteln
Humanium setzt sich seit jeher für eine Welt ein, in der Kinderrechte respektiert und geschützt werden und in der kein Kind jemals unter den Folgen einer Familientrennung leiden sollte. Finden Sie heraus, wie Sie sich für Kinderrechte einsetzen kann, treten Sie unserer Community bei, beteiligen Sie sich an unserer Arbeit und verbreiten Sie die Botschaft über unsere Website, die Facebook-Seite oder den Newsletter!
Geschrieben von Vanessa Cezarita Cordeiro
Übersetzt von Alexandra Dantl
Korrekturgelesen von Birgit Puttock
Quellenangaben:
Augsberger, A., & Collins Elizabeth, M. (2022. June 15). “POV: US child welfare system is falling short because of persistent child poverty.” Retrieved from Boston University Centre for Innovation in Social Sciences, accessed on 18 January 2022.
Human Rights Watch. (2022, November). “If I wasn’t poor, I wouldn’t be unfit. The family separation crisis in the US child welfare system.” Retrieved from Human Rights Watch, accessed on 18 January 2023.
Knispel, S. (2020, December 11). “American child welfare system has lost its way, says Rochester historian.” Retrieved from University of Rochester News Centre, accessed on 18 January 2023.
Naveed, H. (2022, December 8). “The child welfare system needs an overhaul.” Retrieved from American Civil Liberties Union, accessed on 30 January 2022.
United Nations Committee on the Elimination of Racial Discrimination. (2022, September 21). “Concluding observation on the combined tenth to twelfth reports of the United States of America.” CERD/C/USA/CO/10-12. Retrieved from Committee on the Elimination of Racial Discrimination, accessed on 31 January 2023.
United Nations General Assembly. (2010, February 24). “Guidelines for the alternative care of children.” A/RES/64/142. Retrieved from United Nations General Assembly, accessed on 31 January 2023.
