Ist das Vereinigte Königreich ein feindliches Umfeld für Kinderflüchtlinge? 

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Es ist unmöglich zu wissen, wie viele Flüchtlingskinder sich auf die Reise machen, um Asyl zu suchen. Wir wissen jedoch, dass fast 40% der Kinderflüchtlinge in der EU ohne Begleitung ankommen (UNICEF, 2020). Wir kennen zudem einige der lebensfeindlichen Umgebungen, mit denen sie konfrontiert sind: Berge, Wüsten, vom Krieg zerrissene Regionen und tödliche Meeresüberquerungen, die von kriminellen Banden überfallen werden. Ein kürzlich vor dem Obersten Gerichtshof (High Court) verhandelter Fall wirft jedoch ein Schlaglicht auf das feindselige rechtliche Umfeld, dem sich Flüchtlingskinder in den letzten Jahren bei ihrer Ankunft im Vereinigten Königreich ausgesetzt sahen. 

Die Dublin-III-Verordnung

Im Jahr 1990 einigten sich die EU-Mitgliedstaaten auf ein gemeinsames Verfahren zur Zuweisung der Zuständigkeit für Asylanträge, das inzwischen durch die Dublin-III-Verordnung (604/2013) ersetzt worden ist. Das Kernprinzip bleibt jedoch dasselbe: Asylanträge sollten in dem Mitgliedstaat bearbeitet werden, in dem der Antrag gestellt wurde (Home Office, 2020). 

Die Dublin-III-Verordnung legt auch das Verfahren für die Zusammenführung von Flüchtlingskindern mit ihren Eltern oder Verwandten fest, die in einem anderen Mitgliedstaat ankommen. Artikel 8 weist die Zuständigkeit dem Mitgliedstaat zu, in dem der/die Verwandte(n) einen Asylantrag gestellt hat/haben. Es obliegt dem Mitgliedstaat, in dem das Kind ankommt, die Überstellung zu beantragen (bekannt als „Dublin-Überstellungen“); Artikel 21 und 22 sehen ehrgeizige Fristen für die Bearbeitung dieser Anträge und die Zusammenführung von Familien vor (Home Office, 2020).

Artikel 6 der Dublin-III-Verordnung legt nahe, dass der Zweck der Regelung darin besteht, das „Wohl des Kindes“ zu schützen (Home Office, 2020). Wenn dies jedoch zutrifft, was in der Regel der Fall sein wird, warum übernehmen die Mitgliedstaaten dann nicht freiwillig die Verantwortung für die Familie des Kindes

Dies ist nach Dublin III zulässig. Es handelt sich dabei um das so genannte Ausnahmeverfahren (Artikel 17) (Home Office, 2020). Das beste Beispiel für die Anwendung dieses Verfahrens ist Deutschlands offene Einladung an Kriegsflüchtlinge aus Syrien, nachdem die Einreise nach Serbien und Ungarn im Jahr 2015 blockiert worden war (Right To Remain, 2015).  

Das Ausnahmeverfahren ist jedoch eine Ausnahme von der Regel. Stattdessen scheinen die Mitgliedstaaten eher an der Abschreckung von Flüchtlingen interessiert zu sein, sowohl durch Unterbringungsbedingungen (BBC, 2021) als auch durch unbefristete Inhaftierung (Right To Remain, n.d.). Eine solche Politik schafft ein feindliches Umfeld für Flüchtlinge. Dies zeigt der Fall Safe Passage vs. Secretary of State for the Home Department[2021] EWHC 1821, in dem das Innenministerium (Home Office)bei der Umsetzung von Dublin III einen so feindseligen Ansatz verfolgte, dass der Oberste Gerichtshofeinige Aspekte davon für rechtswidrig erklärte. 

Dublin III im Vereinigten Königreich

In der Rechtssache Safe Passage gegen den Secretary of State for the Home Department geht es um die Frage, ob die Leitlinien des Innenministeriums zu Dublin III mit der Verordnung vereinbar sind. Das Innenministerium erstellte im April 2020 einen Leitfaden für Sachbearbeiter, der im Dezember aktualisiert wurde, um Bestimmungen bis zum Ende des Übergangszeitraums zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU zu erlassen. Diese Bestimmungen garantierten, dass Überstellungsanträge, die vor dem Ende des Übergangszeitraums gestellt wurden, unabhängig von der Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs abgeschlossen werden würden. 

Der Oberste Gerichtshofbefand zwei Aspekte dieser Leitlinien als unvereinbar mit der Dublin-III-Verordnung. Der erste bezieht sich auf die im April 2020 veröffentlichten Leitlinien; er betrifft die Empfehlung an die lokalen Behörden, „eine Bewertung mit der Familie oder dem/den Verwandten vorzunehmen, sobald die familiäre Verbindung festgestellt wurde“ (High Court, 2021). Aber Dingemans LJ sagte: „Dieser Ratschlag legte eine klare Linie fest, dass die lokale Behörde keine Beurteilung mit der Familie oder dem Verwandten durchführen sollte, solange die familiäre Verbindung nicht hergestellt ist“ (High Court, 2021). Stattdessen vertrat der Oberste Gerichtshof die Auffassung, dass die örtlichen Behörden eine wichtige Rolle bei der Beurteilung des Kindeswohls spielen können und daher so bald wie möglich einbezogen werden sollten. 

Der zweite Aspekt, den der Oberste Gerichtshof für rechtswidrig befand, findet sich in jeder Version des Leitfadens und ist eine schockierende Bestimmung, die die feindlichen Annahmen offenbart, die dem Ansatz des Innenministeriums zugrunde liegen. 

Artikel 22 von Dublin III gibt den Mitgliedstaaten eine Frist von zwei Monaten, um auf jedes Überstellungsersuchen zu antworten. Wenn sich die Zweimonatsfrist jedoch „dem Ende zuneigt“ und es, aus welchen Gründen auch immer, nicht möglich war, festzustellen, ob eine familiäre Bindung besteht oder was dem Wohl des Kindes entspricht, rät das Innenministerium den Sachbearbeitern, den Antrag abzulehnen. Der Oberste Gerichtshof ist der Ansicht, dass das Innenministerium mehr Ressourcen hätte einsetzen müssen: „Die Mitgliedstaaten waren verpflichtet, ausreichende Ressourcen zur Verfügung zu stellen, um ihren Verpflichtungen nachzukommen“ (High Court, 2021). Dieser Leitfaden deutet jedoch darauf hin, dass die wahre Priorität des Innenministeriums eher in der Vermeidung von Ablehnungen als im Schutz gefährdeter Kinder lag.

Geht der Oberste Gerichtshof weit genug?

Der Oberste Gerichtshof lehnte es ab, alle angefochtenen Bestimmungen für rechtswidrig zu erklären. Safe Passage wies insbesondere auf die Richtlinien zur Beweislast hin. Der Rat des Innenministeriums lautete wie folgt: „Die Beweislast liegt beim Antragsteller und seinem qualifizierten Familienmitglied, Geschwister, Verwandten oder Angehörigen […] im Vereinigten Königreich, um ihre Beziehung zu beweisen“ (High Court, 2021). Dieser Hinweis steht jedoch im Widerspruch zu Artikel 6 Absatz 4 der Verordnung, der den Mitgliedstaat anweist, „geeignete Maßnahmen zur Ermittlung der Familienangehörigen“ im gesamten EU-Gebiet zu treffen. 

Der Oberste Gerichtshof entschied, dass diese Bestimmung nicht rechtswidrig ist. Stattdessen verwies das Gericht auf andere Elemente der Empfehlung, wonach die Sachbearbeiter „vom ersuchenden Staat vorgelegte Beweise“ und „in den Akten des Innenministeriums enthaltene Informationen“ berücksichtigen sollten (High Court, 2021). Aber wie fair ist das? Und ist es überhaupt mit dem Urteil vereinbar? Der Oberste Gerichtshof hat bereits den Leitfaden vom April 2020 für rechtswidrig erklärt, weil er „eine klare Linie“ in Missachtung der Dublin-III-Verordnung gezogen hat, aber schafft dies nicht auch eine klare Linie, die gleichermaßen klar und falsch ist?

Kinderflüchtlinge nach dem Brexit

Der Oberste Gerichtshof hat sich entschieden, den Leitfaden des Innenministeriums nicht aufzuheben; stattdessen verwies das Gericht auf „wesentliche Teile des Leitfadens, die nicht rechtsfehlerhaft sind“ (High Court, 2021). Der Leitfaden bleibt daher für ausstehende Asylanträge und Überstellungsanträge, die vor Ende 2021 gestellt werden, bestehen. 

Im Jahr 2021 haben schätzungsweise 28.300 Migranten den Ärmelkanal überquert (Drummond, 2022). Wie viele davon waren unbegleitete Kinder? Wie viele waren Eltern und Geschwister von unbegleiteten Kindern in anderen europäischen Ländern? Es ist deutlich geworden, dass es nach dem Brexit keine Nachbildung von Dublin III durch bilaterale Abkommen geben wird (Bulman, 2021; ECRE, 2021). Es bleibt jedoch unklar, wie die britische Regierung und die EU-Mitgliedstaaten die Zusammenführung von Flüchtlingskindern und ihren Eltern planen. 

Humanium ist eine von vielen Organisationen, die daran arbeiten, das Bewusstsein für diese Probleme zu schärfen und sich für ihre Lösung einzusetzen. Wir unterstützen Kinderflüchtlinge, die nicht nur im Vereinigten Königreich, sondern auf der ganzen Welt Asyl suchen, und werden dies auch weiterhin tun, in der Hoffnung, eine Welt zu schaffen, in der Kinder nicht gezwungen sind, ihre Eltern und ihre Heimat zu verlassen. Sie können uns bei dieser wichtigen Aufgabe auf verschiedene Weise unterstützen, z. B. durch eine Spende, ehrenamtliche Arbeit, eine Mitgliedschaft oder eine Patenschaft für ein Kind

Geschrieben von Patrick Naylor

Übersetzt von Claudia Goecke

Korrektur gelesen von Beate Dessewffy

Quellen:

BBC, (2021) ‘Napier Barracks: Housing migrants at barracks unlawful, court rules’ [News]. Retrieved from: https://www.bbc.co.uk/news/uk-england-kent-57335499, accessed on 27 March 2022.

Bulman, M., (2021) ‘EU countries rule out asylum deals in blow to Priti Patel’s immigration plans’ [Article]. Retrieved from: https://www.independent.co.uk/news/uk/home-news/asylum-eu-deportation-home-office-b1836598.html, accessed on 27 March 2022.

Drummond, M., (2022) ‘Record year sees more than 28,300 people cross English Channel to the UK’ [Article]. Retrieved from: https://www.independent.co.uk/news/uk/government-english-channel-people-france-home-office-b1986159.html, accessed on 27 March 2022.

ECRE, (2021) ‘UK: Patel plan going nowhere fast, MPs demanding removal of Home Office oversight of asylum housing, new condemnation of Home Office over asylum barracks’ [Article]. Retrieved from: https://ecre.org/uk-patel-plan-going-nowhere-fast-mps-demanding-removal-of-home-office-oversight-of-asylum-housing-new-condemnation-of-home-office-over-asylum-barracks/, accessed on 27 March 2022.

High Court, (2021) ‘Safe Passage International v Secretary of State for the Home Department [2021] EWHC 1821 (Admin)’ [Judgment]. Retrieved from: https://www.judiciary.uk/wp-content/uploads/2021/07/Safe-Passage-v-SSHD.pdf, accessed on 27 March 2022.

Home Office, (2020) ‘Dublin III Regulation: Version 4.0’ [Policy guidance]. Retrieved from: https://assets.publishing.service.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/909412/dublin-III-regulation.pdf, accessed on 27 March 2022.

Right To Remain, (2015) ‘Germany’s suspension of the Dublin Protocol’ [News]. Retrieved from: https://righttoremain.org.uk/germanys-suspension-of-the-dublin-protocol-a-welcome-display-of-european-and-global-solidarity/, accessed on 27 March 2022.

Right To Remain, (n.d.) ‘Immigration Detention’ [Article]. Retrieved from: https://righttoremain.org.uk/toolkit/detention/, accessed on 27 March 2022.

UNICEF, (2020) ‘Latest statistics and graphics on refugee and migrant children’ [Statistics]. Retrieved from: https://www.unicef.org/eca/emergencies/latest-statistics-and-graphics-refugee-and-migrant-children, accessed on 27 March 2022.