Die Situation der Kinder in Marokko: zwischen Fortschritten und Herausforderungen

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Im Mai 2020 veröffentlichte UNICEF Marokko ein Update über die Situation der Kinder in Marokko. Dieser Bericht ist sehr interessant, sowohl inhaltlich als auch formal. Obwohl die Ratschläge auf dieses Land abzielen, können auch auf andere Kontexte angewendet werden, ebenso wie die zur Analyse der Situation verwendete Methodik.

Ein interessanter Ansatz zur Situation

Die Kinderrechtskonvention ist der Eckpfeiler des Schutzes der Kinderrechte. Sie stellt vier Gruppen von Grundrechten vor: das Recht auf Entwicklung, das Recht auf Überleben, das Recht auf Schutz und das Recht auf Mitwirkung. Der Bericht, auch SitAN genannt, übernimmt diese vier Kategorien und hebt insbesondere das Recht auf Bildung in der Kategorie des Rechts auf Entwicklung und das Recht auf Gesundheit in der Kategorie des Überlebensrechts hervor (UNICEF, 2020).

Meiner Meinung nach sollte eine Konvention nicht in Stein gemeißelt sein. Es ist wichtig, dass sie lebendig ist, d. h. dass sie sich an neue Herausforderungen und aktuelle Ereignisse anpassen sollte, wie es die Theorie der „lebendigen Verfassung“ vorschlägt (Barnett, 2020). Während SitAn die Grundlage der in der Konvention vorgesehenen Rechte beibehält, berücksichtigt es aktuelle Probleme wie den Klimawandel und Migranten, unabhängig davon, ob es sich um Binnenvertriebene oder Migranten aus anderen Länder handelt. Diese Faktoren sind für jedes Land von der südlichen Hemisphäre bis in den Norden sehr wichtig. Der durch die Klimaerwärmung beschleunigte Klimawandel betrifft tatsächlich alle Länder und Bevölkerungen. Daher verdienen die damit verbundenen Herausforderungen auch die Aufmerksamkeit aller (Réc20).

Neben der Betrachtung der vier Hauptkategorien von Grundrechten und der aktuellen Herausforderungen wird in diesem Bericht die Situation anhand eines Gerechtigkeitskonzeptes analysiert. Dieser Ansatz hilft dabei, die wichtigsten Dimensionen sozialer Spaltungen und sozialer Ungleichheit zu erfassen: zwischen Jungen und Mädchen, zwischen Reichen und Armen, zwischen ländlichen und städtischen Gebieten (UNICEF, 2020). So ist es insbesondere möglich, die ganze Komplexität der Bevölkerung zu berücksichtigen und auf diese Weise die staatliche Politik besser auszurichten.

Wenn Ursachen verstanden werden, um Prioritäten zu definieren, ist es möglich, die Verbesserungsvorschläge besser anzupassen. Dieser Bericht hilft zu verstehen, wie wichtig es ist, Daten zu sammeln und dafür zuverlässige und unabhängige Institutionen zu haben. Tatsächlich zeigen solche Informationen die Wirksamkeit der öffentlichen Politik, die hier analysiert wird, und ihre Auswirkungen. Hierdurch ist es vor allem möglich, sie anzupassen oder sogar neu zu schaffen, um eine rechtliche, soziale oder politische Lücke zu füllen (De Marcellis-Warin, 2010). Der SitAn schlägt daher mehrere Verbesserungswege vor.

Uneinheitliche Fortschritte

Marokko ratifizierte 1993 die Internationale Konvention über die Kinderrechte. Der UNICEF-Bericht präsentiert diese Ratifizierung als ein Versprechen an die marokkanischen Kinder, dass sich das Land verpflichtet, ihre Rechte zu fördern und zu schützen und vor allem alles zu tun, um die Situation der Kinder zu verbessern. Marokko ist ein Land, in dem die Tradition eine große Rolle spielt und in dem Kinder heute noch immer als Eigentum der Familie betrachtet werden (UNICEF, 2020).

Darüber hinaus genehmigte der marokkanische Regierungsrat 2019 einen Gesetzesentwurf für den Beitritt des Landes zum Pakt der Rechte des Kindes im Islam. Auch wenn dieses Projekt noch nicht verwirklicht ist, fordert die Organisation für islamische Zusammenarbeit selbst eine Überarbeitung dieses Pakts (Zine, 2019), was gleichwohl die Bedeutung der muslimischen Religion, ihrer Werte und Tradition zeigt. Dies könnte auch das traditionelle Familienbild und insbesondere die Eltern und Kindern zugeschriebenen Geschlechterrollen stärken, was die Gleichberechtigung aller Kinder, unabhängig vom Geschlecht, behindern würde (Guessous, 2019).

Dennoch sind die Bemühungen in Form neuer Gesetze und neuer Dienstleistungen ein Zeichen des Fortschritts. Der Bericht benennt beispielsweise den Anstieg der Einschulungsraten. Es werden mehrere Initiativen vorgestellt, wie z. B. „Eine Million Schultaschen“, das Tayssir-Programm oder die Einrichtung eines Internatsystems. Obwohl diese Maßnahmen begrüßt werden, werden sie durch mehrere Faktoren verlangsamt, darunter die unterschiedliche Behandlung von Mädchen und Jungen, aber auch von reichen und armen Haushalten. Zur Veranschaulichung: Ein Mädchen wird – weil es ein Mädchen ist – seltener im Internat wohnen als ein Junge, was sie vom Schulbesuch abhalten könnte. Diese Art von Komplikationen und Verlangsamungen sind in jedem Aspekt der in diesem Bericht erwähnten öffentlichen Politik und Projekten im Zusammenhang mit Kinderrechten zu finden.

Herausforderungen

Selbst wenn sich die Situation verbessert und Maßnahmen zum Schutz und zur Förderung der Rechte aller Kinder ergriffen werden, sieht sich Marokko vielen Herausforderungen und Situationen der Verletzung von Kinderrechten gegenüber. Nur wenige Tage nach der Veröffentlichung des UNICEF-Berichts wurden mehrere Artikel online gestellt, in denen vor Kinderarbeit in Marokko gewarnt wurde. Wie der Bericht aufzeigt, vollzieht sich die Entwicklung der Sitten nur langsam, was den Fortschritt verlangsamt.

Der Bericht baut auf den Herausforderungen auf, die UNICEF für Marokko identifiziert hat: frühkindliche Entwicklung, Jugendliche, geschlechtsspezifische Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen, Migrantenkinder, Klimawandel und seine Auswirkungen sowie kinderfreundliche öffentliche Finanzen. Viele öffentliche Politiken sind daher zu erdenken und zu verbessern, damit Marokko seinen Fortschritt fortsetzt. Ein Punkt, der all diese Herausforderungen verbindet, ist die Bedeutung der Akteure und ihrer Fähigkeit zur Zusammenarbeit und Koordination.

Die öffentliche Politik wird sicherlich von den Regierungen entschieden, aber es sind die Akteure vor Ort, die Verwalter, Gemeindearbeiter, Lehrer, Kinderärzte usw. – alle Berufe, die direkt oder indirekt mit Kindern arbeiten – die Entscheidungen und Programme umsetzen. Die Zusammenarbeit zwischen diesen Akteuren ist entscheidend für die Umsetzung der öffentlichen Politik. Durch ihren Beruf stehen sie in Kontakt mit Kindern. Deshalb ist ihre Sensibilisierung für Kinderrechte ein Schlüsselfaktor, um die Sitten in Richtung der Durchsetzung der Kinderrechte zu verändern. Sie können sogar Mittler zur Sensibilisierung von Familien und Kindern selbst sein.

Lehren für uns alle

Die hier vorgestellten öffentlichen Politiken sind spezifisch für den marokkanischen Kontext, seine Traditionen und seine Kultur. Eine öffentliche Politik, die in einem Land funktionieren könnte, könnte in einem anderen Land den gegenteiligen Effekt haben. Bei der Lektüre des Berichts können viele der dargestellten Situationen jedoch in anderen Kontexten auftreten: die Gleichstellung der Geschlechter, die Integration von Migranten, das Problem der globalen Erwärmung, die soziale Kluft zwischen Arm und Reich usw. Darüber hinaus befinden sich auch andere, vor allem afrikanische Länder, in der demografischen Übergangsphase, wie sie Marokko durchläuft, auch wenn die Situationen heterogen sind (Canning, Raja, & Yazbeck, 2016).

Da der demografische Übergang und das Humankapital miteinander verbunden sind, ist es wichtig, über öffentliche Politiken für Kinder nachzudenken, um Armut, Analphabetismus usw. – alles, was das Humankapital betrifft – langfristig zu reduzieren (International Bank for Reconstruction and Development / The World Bank, 2018). Die tägliche Arbeit für die Förderung und den Schutz der Kinderrechte ist nicht nur mit dem Wohlergehen der Kinder, sondern auch mit dem Wohlergehen der gesamten bestehenden und zukünftigen Bevölkerung verbunden.

Durch seinen täglichen Kampf setzt sich Humanium für eine bessere Zukunft ein. Lassen Sie uns gemeinsam eine Welt erschaffen, in der die Rechte der Kinder respektiert, geschützt und durchgesetzt werden.

Geschrieben von Juliette Bail

Übersetzt von Chaima Naimi

Korrektur gelesen von Rebecca Richter

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