Die Vernachlässigung von Mädchen mit Autismus in den USA

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Die Autismus-Spektrum-Störung bei Mädchen in den Vereinigten Staaten von Amerika wird oft nicht erkannt und falsch diagnostiziert. In der Vergangenheit hat man sich in Bezug auf Autismus ausschließlich auf junge weiße Jungen konzentriert. Aufgrund dieses Mangels an Forschung und Tests fühlen sich Mädchen, insbesondere Mädchen mit dunkler Hautfarbe, missverstanden. Sie erhalten keine angemessene Unterstützung und Diagnose.

Definition von Autismus-Spektrum-Störung (ASS)

Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) handelt es sich bei der Autismus-Spektrum-Störung (auch Autismus genannt) um eine heterogene Gruppe von neuronalen Entwicklungsstörungen, die durch ein gewisses Maß an Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion und Kommunikation gekennzeichnet sind (WHO, 2023). Autistische Kinder haben unterschiedliche Fähigkeiten – einige benötigen ein hohes Maß an Unterstützung, während andere nur wenig Hilfe benötigen.

Die Rechte von Kindern mit Autismus

Artikel 23 der Konvention über die Rechte des Kindes enthält besondere Bestimmungen für Kinder mit geistigen oder körperlichen Behinderungen (Convention, 1989). Artikel 23 besagt, dass die Regierungen die notwendige Unterstützung bereitstellen müssen, um sicherzustellen, dass jedes Kind mit einer Behinderung effektiven Zugang zu Bildung, Ausbildung, Gesundheitsversorgung, Rehabilitationsdiensten, Berufsvorbereitung und Freizeitaktivitäten hat, und zwar in einer Art und Weise, die seine größtmögliche soziale Integration fördert. 

Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen mit Autismus

Aufgrund verschiedener Faktoren werden Mädchen mit Autismus oft fehldiagnostiziert und wachsen in einer Gesellschaft auf, in der sie nicht angemessen gefördert und betreut werden. Der Hauptgrund dafür ist, dass die Kriterien für Autismus zu einseitig sind und auf dem typischen Erscheinungsbild autistischer Störungen bei Jungen basieren.

Die Symptome und Fähigkeiten autistischer Mädchen

Studien auf der ganzen Welt haben gezeigt, dass Mädchen mit Autismus andere Symptome und Merkmale aufweisen als Jungen mit Autismus (Bennie, 2022). Zum Beispiel entwickeln autistische Kinder ihre feinmotorischen Fähigkeiten anders als ihre neurotypischen Altersgenossen.

Eine Studie aus dem Jahr 2019 untersuchte Kinder mit Autismus im Alter von 12 bis 60 Monaten und stellte fest, dass Jungen im Vorschulalter geringere motorische Fähigkeiten (wie Geschicklichkeit und Gleichgewicht) aufwiesen als Mädchen (Mohd, 2021).  Allerdings können motorische Schwierigkeiten bei Mädchen erst später auftreten, was dazu führt, dass Jungen früher diagnostiziert werden.

In den Jahren 2009, 2015 und 2016 in den USA und international durchgeführte Studien zeigen, dass Frauen mit Autismus über einen entwicklungsgerechteren Wortschatz und bessere sprachliche Grundfähigkeiten verfügen als ihre männlichen Altersgenossen (Ratto, 2018). Mädchen haben jedoch häufiger sensorische und aufmerksamkeitsbezogene Schwierigkeiten und ein höheres Risiko, an Angstzuständen und Depressionen zu leiden (Saxe, 2017). Darüber hinaus können psychische Probleme den zugrunde liegenden Autismus verschleiern und zu Fehldiagnosen führen. 

Das Problem der „Maskierung“

Es ist erwiesen, dass Mädchen mit Autismus bewusst oder unbewusst natürliche autistische Reaktionen unterdrücken und soziale Signale imitieren, um sich anzupassen. Im Laufe ihres Heranwachsens lernen einige Mädchen Muster, die sie in sozialen Situationen anwenden können. Sie entwickeln eine passive Art, sich anderen gegenüber zu verhalten, die darauf abzielt, dass sich die andere Person wohl fühlt. 

Viele autistische Mädchen und Frauen wenden diese Art der sozialen Tarnung, die als „Maskierung“ bezeichnet wird, ständig an, um für andere akzeptabel zu erscheinen. Dieses Verhalten kann bei Mädchen zu Gefühlen der Isolation und Erschöpfung führen. Bei Jungen mit Autismus ist diese Art der Maskierung nicht so häufig. 

Autismus in den USA 

Im Jahr 2023 stellten die Centers for Disease Control and Prevention fest, dass in den Vereinigten Staaten eines von 36 Kindern Autismus hat (Moore, 2023). Ihre Untersuchungen zeigten auch, dass Jungen viermal häufiger mit Autismus diagnostiziert werden als Mädchen. Obwohl diese Statistik vermuten lässt, dass mehr Jungen als Mädchen mit Autismus leben, ist dies nicht der Fall.  Tatsächlich werden Mädchen im Durchschnitt fast ein Jahr später diagnostiziert als Jungen (Mädchen im Alter von 5,6 Jahren gegenüber Jungen im Alter von 4,8 Jahren) (Autism Speaks, 2024).

Einseitigkeit in der Autismusforschung

In den USA hat die männerzentrierte Forschung und Aufklärung über Autismus dazu geführt, dass Mädchen mit Autismus zu wenig oder falsch diagnostiziert werden. In der Vergangenheit konzentrierte sich die Forschung zu Autismus und anderen kognitiven und neurologischen Behinderungen hauptsächlich auf weiße männliche Teilnehmer. Bis heute sind Mädchen und nicht-binäre Kinder in dieser Forschung stark unterrepräsentiert. 

In Nordamerika wird Autismus am häufigsten mit „Stereotypen von Weißsein, hohem sozioökonomischem Status und Männlichkeit“ in Verbindung gebracht (Cascio, 2020). In den meisten Forschungsstudien zu Autismus wurden nur wenige Mädchen und Frauen einbezogen oder gänzlich ausgeschlossen (D’Mello, 2022). Dieser Ausschluss hat zu einem falschen Verständnis von Autismus bei Mädchen geführt, was die notwendige Unterstützung für sie behindert. 

Wie Mädchen in den USA bei der Früherkennung von Autismus übersehen werden

Es gibt keinen Standardtest, um ein Kind mit Autismus zu diagnostizieren. Aber auch wenn es einige Unterschiede in der Art und Weise gibt, wie Autismus diagnostiziert wird, verlassen sich Kinderärzte und Autismusexperten regelmäßig auf standardisierte Messungen und Tests, um ihre Patientinnen und Patienten zu diagnostizieren. Diese Messungen berücksichtigen nicht die spezifischen Symptome und Erfahrungen von Mädchen mit Autismus in den USA (Moore, 2018). Da Mädchen in der Autismusforschung unterrepräsentiert sind, sind Fachkräfte weniger gut über die besonderen Merkmale und Eigenschaften von Mädchen informiert.

Standardisierte Tests berücksichtigen nicht die Unterschiede in den Verhaltensmustern und Symptomausprägungen von Mädchen und Jungen mit Autismus (Ratto, 2018). Abgesehen von den häufigen Fehldiagnosen oder dem Fehlen von Diagnosen werden Mädchen und Frauen aufgrund der einseitigen Betrachtung und des falschen Verständnisses ihrer Symptome eher später im Leben diagnostiziert.  

Vernachlässigung sich überschneidender Identitäten

Der weiße, männerzentrierte Charakter der Autismusforschung verdeutlicht die Ungleichheiten beim Zugang zur Diagnose aufgrund von ethnischer Herkunft und Geschlecht. Es gibt nur wenige Studien über Mädchen und noch weniger über Mädchen mit dunkler  Hautfarbe, die an einer Form von kognitiver Behinderung leiden. Amerikanische Studien haben gezeigt, dass Autismus bei weißen Kindern häufiger auftritt als bei schwarzen und hispanischen Kindern (Collins, 2023). Ähnlich wie bei den statistischen Daten über Mädchen ist es auch hier notwendig, die Ergebnisse dieser Studien in einen Kontext zu stellen. 

Aufgrund der unzureichenden Diagnose von Mädchen und der mangelnden Unterstützung für Schwarze, Indigene und Menschen mit dunkler  Hautfarbe werden Mädchen mit dunkler Hautfarbe, die Autismus haben, seltener diagnostiziert als kaukasische Menschen mit Autismus. Das Fehlen einer angemessenen Diagnose führt zu einem Mangel an Unterstützung, was die Symptome verschlimmert und in einigen Fällen zu einer schlechteren Lebensqualität führt. Um sicherzustellen, dass alle Kinder die Gesundheitsversorgung erhalten, auf die sie ein Recht haben, ist es von entscheidender Bedeutung, die sich überschneidenden unterdrückten Identitäten von Minderheiten einzubeziehen. 

Bildungsprobleme von Mädchen mit Autismus in den USA

Ein beträchtlicher Prozentsatz der Schüler:innen mit Autismus in den USA, nämlich 8 Prozent, schließt die High School nicht ab, im Vergleich zu 5 Prozent aller Schüler:innen (Autism Speaks, 2024). Die Unterstützung, die von den Schulen angeboten wird, reicht unter Umständen nicht aus, um Mädchen den Schulabschluss zu ermöglichen. Selbst wenn Mädchen korrekt diagnostiziert werden, kann es aufgrund ihrer Fähigkeit, Autismus zu maskieren, für Lehrer:innen und Erzieher:innen schwierig sein, auf ihre Bedürfnisse einzugehen (Bennie, 2022). 

Gesellschaftliche Erwartungen, wie sich Mädchen in der Schule gegenüber ihren Mitschülern und Mitschülerinnen verhalten sollen, üben zusätzlichen Druck auf autistische Mädchen aus, sich anzupassen, was sie überfordern und ihr Selbstwertgefühl beeinträchtigen kann. Auch Stress, Ängste, Depressionen und Essstörungen werden dadurch begünstigt. In vielen Bildungssystemen gibt es keine gezielte Unterstützung für autistische Mädchen. Programme und Interventionen sind oft auf Jungen ausgerichtet, so dass die spezifischen Bedürfnisse von Mädchen nicht berücksichtigt werden können.

Auf dem Weg in eine inklusive Zukunft

Der Ausschluss von Mädchen, Frauen und Menschen mit dunkler Hautfarbe aus der Autismusforschung ist ein großes ethisches Problem, das sie in der Gesellschaft benachteiligt. Aus diesem Grund muss eine repräsentative Gruppe von Mädchen und Kindern mit dunkler Hautfarbe in die Autismusforschung einbezogen werden. Bildungseinrichtungen müssen angemessene Unterstützung für die verschiedenen Herausforderungen bereitstellen, mit denen Mädchen mit Autismus konfrontiert sind, z. B. individuelle psychologische Betreuung und Lernhilfe.

Darüber hinaus sollten Mädchen mit Autismus außerschulische Unterstützung erhalten, um ihre psychische Gesundheit durch staatlich finanzierte Angebote zu fördern, die auf die individuellen Herausforderungen der Mädchen eingehen. Schließlich müssen Fachkräfte des Gesundheitswesens entsprechend geschult werden, um das Erscheinungsbild von Autismus bei Mädchen zu verstehen und zu erkennen.

Durch die Einbeziehung einer größeren demografischen Vielfalt von Menschen mit Autismus in die Forschung, die Bereitstellung angemessener individueller Unterstützung und die Förderung eines neurodiversen Lebensstils können die Bedürfnisse aller Kinder mit Autismus erfüllt werden. Humanium setzt sich für das Recht jedes Kindes auf Gesundheit und Wohlbefinden ein. Wenn Sie diese Vision teilen und einen Beitrag leisten möchten, können Sie uns durch Spenden, ehrenamtliche Mitarbeit oder als Mitglied unterstützen. Gemeinsam können wir das Leben von Kindern auf der ganzen Welt nachhaltig verbessern.

Geschrieben von Kathleen Tereposky

Übersetzt von Claudia Flanner

Korrektur gelesen von Beate Dessewffy

Literaturhinweise:

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Cascio M. A. et. Al. (2020). Making Autism Research Inclusive by Attending to Intersectionality: A Review of the Research Ethics Literature. Retrieved from the Review Journal of Autism and Developmental Disorders at https://www.pragmatichealthethics.ca/wp-content/uploads/2020/05/2020_Cascio_et_al-2020-Review_Journal_of_Autism_and_Developmental_Disorders.pdf, accessed on 20 July 2024.

Collins S. D. (6 October 2023). 1 in 4 Teens With Autism May Be Undiagnosed. Retrieved from US News at https://www.usnews.com/news/health-news/articles/2023-10-06/1-in-4-teens-with-autism-may-be-undiagnosed, accessed on 20 July 2024.

D’Mello A. M. et. Al. (22 August 2022). Exclusion of females in autism research: Empirical evidence for a “leaky” recruitment‐to‐research pipeline. Retrieved from National Library of Medicine at https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC9804357/, accessed on 20 July 2024.

 Mohd N. A. (15 September 2021). Motor Development in Children With Autism Spectrum Disorder. Retrieved from Frontiers in Pediatrics at https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC8480230/, accessed on 20 July 2024.

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Ratto A.B. (May 2018) What About the Girls? Sex-Based Differences in Autistic Traits and Adaptive Skills. Retrieved from Journal of Autism and Developmental Disorders at https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5925757/, accessed on 30 July 2024. 

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