Vielfalt der Körper- intergeschlechtliche Kinderrechte zur Selbstbestimmung des eigenen Körpers

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„Intersexuelle Individuen müssen in der Medizin und Gesellschaft als natürlich akzeptiert werden. Ich komme in der Natur vor, und verlange, meine eigenen Entscheidungen zu treffen, wie jede andere Person auch. Und ich verlange das für jede Person, die intersexuell geboren wird.“

– Karen A. Walsh (Davis, 2016)

Der Begriff „Intersex“ ist ein Oberbegriff, der körperliche Merkmale beschreibt, die den typischen Definitionen von „Junge“ oder „Mädchen“ nicht zugeordnet werden können (United Nations & Commissioner, 2017). Intersex-Merkmale werden oft als ein medizinischer Zustand wahrgenommen, der „normalisiert“ werden muss. Diese „normalisierenden“ Operationen werden häufig nur aus kosmetischen Gründen durchgeführt, um binären Geschlechtsmerkmalen zu entsprechen. 

Die Grundrechte eines Kindes werden durch diese medizinischen Verfahren verletzt. Die Konvention über die Rechte des Kindes (KRK) fördert die Autonomie und das Mitspracherecht von intersexuellen Kindern bei unnötigen medizinischen Operationen. Nur in Ausnahmefällen, wenn dies medizinisch erforderlich ist, sollten medizinisches Fachpersonal diese Operationen durchführen dürfen. Es ist unerlässlich, die medizinische Notwendigkeit getrennt von den sozialen Erwartungen zu interpretieren, dass der Kinderkörper einem der binären Geschlechter entsprechen muss.

„Normalisierung“ von schädlichen Operationen an intersexuellen Kindern

In der Regel erfordern die meisten medizinischen Gesetze die Zustimmung der Person, sich einer medizinischen Behandlung zu unterziehen(Dunne, 2018). In den meisten Ländern sind Eltern oder Erziehungsberechtigte befugt, der medizinischen Versorgung im Namen ihrer Kinder zuzustimmen(Dunne, 2018). Für intersexuelle Kinder ist dies besonders problematisch.

Oft entscheiden Eltern sich, dem Rat von medizinischen Experten folgend, dazu, dass an ihren Kindern „normalisierende“ medizinische Operationen ausgeführt werden, die ausschließlich kosmetischen Zwecken dienen (United Nations & Commissioner, 2017). Der Zweck besteht insbesondere darin, deren körperlichen Eigenschaften an die Binärität der Geschlechter von „männlich“ und „weiblich“ anzupassen (United Nations & Commissioner, 2017).

In Ländern auf der ganzen Welt sind intersexuelle Kinder häufig irreversiblen Verfahren ausgesetzt, die bleibende Schmerzen, Inkontinenz, Verlust der sexuellen Empfindung und lebenslanges psychisches Leiden, einschließlich Depressionen, verursachen können (HRC, 2020; Agius, 2015). Empirische Studien in Deutschland hatten zum Beispiel gezeigt, dass viele intersexuelle Kinder eine Gonadektomie, eine Reduktion ihrer Klitoris, eine vaginale Operation und eine Korrektur ihrer Harnwege erhalten hatten(Agius, 2015). 

Darüber hinaus folgen solchen Operationen in der Regel weitere Eingriffe und postoperative Komplikationen (Agius, 2015). Viele intersexuelle Personen berichten, dass diese Behandlungen für sie traumatisierend waren (Davis, 2016). Dazu gehörten demütigende Verfahren wie die Untersuchungen, die von einer großen Anzahl von medizinischen Experten, die intersexuelle Merkmale sehen wollten, ausgeführt wurden (Davis, 2016; Agius, 2015).

Anerkennung der Beeinträchtigung der Rechte von intergeschlechtlichen Kindern

Mehrere Menschenrechtsorganisationen erkennen an, dass diese schädlichen Operationen die Rechte von intersexuellen Kindern verletzen. So hat der ‚Sonderberichterstatter für Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen‘ beispielsweise betont, dass Staaten alle Gesetze aufheben sollten, die aggressive und irreversible Behandlungen, einschließlich erzwungener genital-normierender Operationen, zulassen(Méndez, 2013). 

In einer Erklärung vor dem Menschenrechtsrat forderten 33 Staaten die Regierungen dringend dazu auf, die Autonomie von intersexuellen Erwachsenen und Kindern und ihr Recht auf Gesundheit, sowie auf körperliche und geistige Unversehrtheit zu schützen, damit sie frei von Gewalt und schädlichen Praktiken leben können (HRC, 2020). Auch der Ausschuss für die Rechte des Kindes und der CEDAW-Ausschuss haben in ihren Empfehlungen an die Staaten betont, dass kosmetische Operationen an intersexuellen Kindern mit Zustimmung der betroffenen Person durchgeführt werden müssen (Committee, 2018; CEDAW, 2017).

Bestimmung von „medizinischer Notwendigkeit“ im Gegensatz zu binären sozialen „Normen“

Menschenrechtsorganisationen betonen den Drang, diese „normalisierenden“ Operationen an intersexuellen Kindern zu verbieten, weil ihre Grundrechte verletzt werden. In Artikel 19 des CRC ist festgelegt, dass die Staaten „das Kind vor allen Formen körperlicher oder geistiger Gewalt, Verletzung oder Missbrauch schützen“ (CRC, 1989). Nur unter ganz bestimmten Bedingungen kann dieses Recht eingeschränkt werden. Was medizinische Eingriffe an intersexuellen Kindern angeht, dürfen diese nur aus medizinischen Gründen durchgeführt werden(Sandberg, 2018). Dabei ist es wichtig, den Begriff „medizinische Notwendigkeit“ so zu bestimmen, dass intersexuelle Kinder wirksam geschützt werden.

Um dies zu tun, muss man den Grund für die unnötigen, schädlichen Operationen an intersexuellen Kindern feststellen. Binäre Geschlechts-„Normen“ sind zumeist die Motivation für die ärztliche Beratung, die Eltern erhalten, um den „normalisierenden“ Behandlungen von Kindern zuzustimmen (Dunne, 2018). Man glaubt, dass Kinder den Geschlechterkategorien „Mädchen“ und „Junge“ entsprechen müssen, um zu vermeiden, stigmatisiert oder diskriminiert zu werden (Dunne, 2018). Daher prägt die binäre Sicht der Geschlechter in unserer Gesellschaft die Interpretation von medizinischer Notwendigkeit (Hegarty & Smith, 2021). 

Um die Rechte von Kindern zu schützen, sollte man sich nur auf „medizinische Notwendigkeit“ berufen, wenn Behandlungen für die körperliche Gesundheit von Kindern unerlässlich sind, wie im Falle einer drohenden Lebensgefahr (Internationale Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen, 2020; OHCHR, 2019). In allen anderen Fällen stellen Operationen an intersexuellen Kindern eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit gemäß Artikel 19 CRC dar (Sandberg, 2018).

Förderung der körperlichen Vielfalt

Ärztliche Argumente, dass intersexuelle Kinder gemobbt werden und unter einem Gefühl der Nichtzugehörigkeit leiden, sollten niemals eine Rechtfertigung für die Durchführung von Operationen sein(Hegarty & Smith, 2021). Erforderlich ist eine intensive medizinische Untersuchung der physischen Vielfalt von Körpern, die nicht kategorisiert werden müssen.

Intersexuelle Kinder sind mit Diskriminierung konfrontiert, (OHCHR, 2019) und daher ist es wichtig, diese Diskriminierung innerhalb unserer Gesellschaft detailliert anzusprechen. Es ist notwendig, das Personal des Gesundheitswesens – das am engsten an diesen Operationen beteiligt ist – zu schulen, um es über die Menschenrechte, die durch diese Operationen verletzt werden, und die schädlichen Folgen für intersexuelle Kinder aufzuklären (United Nations & Commissioner, 2017).

Kinder sind die Bevollmächtigten ihres eigenen Körpers

Besonders intersexuelle Kinder müssen selbst bestimmen dürfen, was mit ihren Körpern geschieht. Da sie selbst betroffen sind, müssen sie auch selbst entscheiden, ob eine Behandlung durchgeführt werden soll (Dunne, 2018). Ein solches Ergebnis wird durch das Grundprinzip des CRC unterstützt: die Autonomie von Kindern (Sandberg, 2018). Die Autonomie der Kinder wird durch Artikel 12 der Kinderrechtskonvention (CRC) unterstützt, die das Recht der Kinder auf Teilnahme an allen sie betreffenden Angelegenheiten, sowie das in Artikel 8 der Kinderrechtskonvention geschützte Recht auf Identität festschreibt (Sandberg, 2018).

Geschlechtsmerkmale von Kindern betreffen einen Teil ihrer Identität (Davis, 2016). Durch Eingriffe in ihren Körper ohne Einwilligung von Kindern wird ihr Recht auf Identität verletzt, da ihre Identität bewahrt werden muss (CRC, 1989; Sandberg, 2019). Da die Selbstbestimmung des eigenen Körpers ein Kernbestandteil der eigenen Identität ist, müssen medizinische Eingriffe so lange hinausgezögert werden, bis Kinder in einem Alter sind, eine Einwilligung nach vorheriger Aufklärung geben zu können(Intersexuelle Menschen e.V. , 2020; United Nations & Commissioner, 2017). 

Dieser Entscheidungsprozess muss von Konsultationen mit fachübergreifenden Experten, d.h. außerhalb des medizinischen Umfelds, begleitet werden (Intersexuelle Menschen e.V., 2020; Deutsches Institut für Menschenrechte, 2021). Auf diese Weise werden Kinder davor geschützt, sich aufgrund von sozialem Druck medizinischen Eingriffen zu unterziehen. 

Staaten müssen die Rechte von intergeschlechtlichen Kindern umfassend schützen.

Dass die „normalisierenden“ Prozeduren einen unmenschlichen Zustand darstellen, ist klar. Jetzt müssen die Staaten umfassend auf diese menschenrechtsverletzenden Situationen reagieren, indem sie Gesetze schaffen, die den Bedürfnissen von intersexuellen Kindern gerecht (United Nations & Commissioner, 2017) werden. In den letzten Jahren hat es Verbesserungen zu ihrem Schutz gegeben. Deutschland beispielsweise verabschiedete 2021 ein Gesetz, das die Operation von intersexuellen Kindern verbietet, wenn es der alleinige Grund ist, ihren Körper an das binäre Verständnis von Geschlecht anzupassen (Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), 2021).

Das deutsche Recht ist in dem Sinne zu unterstützen, dass es den Schutz von intersexuellen Kindern ausweitert (Deutsches Institut für Menschenrechte, 2021). Diese Schutzmaßnahmen für intersexuelle Kinder gehenaber nicht weit genug. Die Entscheidungsbefugnis, ob Kinder unter die geschützte Gruppe der intersexuellen Kinder fallen, beruht nach wie vor auf medizinischen Richtlinien, die intersexuelle Kinder pathologisieren(Internationale Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen, 2020). 

Entscheidend ist aber, dass Behandlungen von intersexuellen Kindern nicht mehr an Abweichungen vom binären Geschlecht gemessen werden (Internationale Vereinigung Intergeschlechtlicher Menschen, 2020). Stattdessen müssen Medizin und Gesellschaft sie in gleichem Maße als Körper anerkennen, die nicht pathologisch interpretiert werden, genau wie die Körper von Kindern, die den binären Geschlechtern entsprechen.

Humanium fördert die körperliche Vielfalt unter Kindern. Humanium arbeitet daran, eine Welt zu schaffen, in der intersexuelle Kinder autonom über ihren Körper bestimmen. Schließen Sie sich Humanium an, indem Sie ein Kind sponsern, eine Spende leisten,Mitglied werden oder sichals Freiwillige engagieren.

Geschrieben von Louisa Steffen

Übersetzt von Susanne Russell

Korrektur gelesen von Katrin Glatzer

References:

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