Im August 2021 organisierte Weißrussland den Transport von Tausenden von Migranten an die Tore der Europäischen Union und löste damit eine Migrationskrise von bisher unbekanntem Ausmaß aus. Hunderte Migrantenkinder saßen unter erbärmlichen Umständen an der polnischen Grenze fest und kämpften mit extremen Wetterbedingungen.
Die Ursprünge der Krise: ein beispielloser „Migrationsangriff“
Die weißrussische Antwort auf die EU-Sanktionen
Lange bevor es in einer Migrationskrise gipfelte, zeigte die Krise, die zwischen Weißrussland und Europa entstand, alle Merkmale einer diplomatischen Krise. Die Spannungen zwischen Weißrussland und der Europäischen Union sind nämlich nicht neu und gehen auf die Wiederwahl des weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko im August 2020 zurück. Die Europäische Union war der Ansicht, dass die Wahl mit Unregelmäßigkeiten behaftet war, weigerte sich, die Legitimität des Präsidenten anzuerkennen, und verurteilte die „weder freien noch fairen“ Wahlen mit gefälschten Ergebnissen. (Rat der Europäischen Union, 2020)
Nach einem gewaltsamen Vorgehen gegen friedliche Demonstranten, Oppositionsmitglieder und Journalisten in Weißrussland, verhängte die Europäische Union im Oktober 2020 Sanktionen gegen rund 40 Personen. Diese Maßnahmen beruhten auf einem Einreiseverbot in die Europäische Union und dem Einfrieren von Vermögenswerten. Sowohl Alexander Lukaschenko als auch sein Sohn Viktor Lukaschenko unterlagen diesen Beschränkungen. (Rat der Europäischen Union, 2020)
Im Mai 2021 erzwang Weißrussland die Landung eines Ryanair-Passagierflugzeugs in Minsk, das einen Journalisten und einen Oppositionsaktivisten an Bord hatte. Dieser Akt wurde von der Europäischen Union streng sanktioniert, indem sie weißrussischen Fluggesellschaften den Überflug des europäischen Luftraums und den Zugang zu ihren Flughäfen untersagte. (Rat der Europäischen Union, 2021)
Die Instrumentalisierung von Migranten für politische Zwecke
Vor dem Hintergrund dieser diplomatischen Spannungen begann Weißrussland ab Juni 2021 mit der Organisation von Flügen und internen Umsiedlungen, die Migrantendie Einreise in die Europäische Union erleichtern sollten. (Rat der Europäischen Union, 2021). In enger Zusammenarbeit mit einigen Fluggesellschaften brachte Weißrussland Tausende Migranten per Flugzeug nach Litauen, Lettland und Polen. (Laure Stephan, 2021) Ein wahrer „Menschenhandel„, so die Worte des Staatssekretärs für europäische Angelegenheiten, Clément BEAUNE, der den vom belarussischen Regime geplanten „Migrationsangriff“ bedauerte. (BFM TV, 2021)
Die Ankunft Tausender Migranten in Weißrussland ist auch das Ergebnis harter Arbeit von weißrussischen Schleusernetzwerken. Für einige Tausend Dollar versprechen die Schlepper den Bewerbern ein Visum und ein neues Leben in Europa. Mehrere Reisebüros beteiligen sich an diesem Menschenschmuggel und vermitteln Touristenflugtickets nach Weißrussland. Das Ergebnis ist jedoch selten das erhoffte und für die meisten Familien bedeuteten die Kosten einer solchen Reise den Verkauf ihrer Häuser und ihres Besitzes, was eine Rückkehr von vornherein unmöglich macht. (Czarnecki, 2021)
Bei ihrer Ankunft auf dem Flughafen von Minsk glauben die Migranten, dass sie endlich im europäischen Traum angekommen sind. Doch schon bald sieht die Realität ganz anders aus. Nachdem sie ein oder zwei Nächte in einem Hotel in der weißrussischen Hauptstadt verbracht haben, werden die Familien von den weißrussischen Behörden – manchmal gewaltsam – in Richtung der polnischen Grenze gedrängt. (C dans l’air, 2021) Doch auf beiden Seiten der Grenze sind die Behörden unnachgiebig: Weder Polen noch Weißrussland wollen sie aufnehmen.
Im Zentrum der Krise: die Not von Migrantenkindern und ihren Familien
Desaströse (Über-)Lebensbedingungen
Während die Glücklichsten in einem zum Auffanglager umgebauten Hangar Zuflucht gefunden haben, in dem sich fast tausend Migranten drängen, leben die meisten unter katastrophalen Bedingungen in einem Wald entlang der weißrussischen Grenze. Im Herzen dieses Waldes warten Tausende von Familien, Frauen und Kinder, die teilweise noch sehr klein sind, in der Hoffnung, die Grenze nach Europa zu überqueren. Mehrere Wochen lang leben Hunderte von Kindern obdachlos bei eisigen Temperaturen von fast -10 Grad und haben keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu sauberem Wasser und Nahrung. (UNO, 2021)
Vor der Haustür der Europäischen Union befinden sich auch Familien mit behinderten Kindern, die darauf hoffen, Zugang zu der in Europa angebotenen qualitativ hochwertigen ärztlichen Versorgung zu erhalten. In der Tat wurden mehrere Fälle von behinderten Kindern, die sich im Wald aufhalten, dokumentiert. Unter ihnen war der vierjährige Azhi, der in Begleitung seiner Mutter aus dem Irak kam, in der Hoffnung, eine Rückenoperation zu erhalten. (Qiblawi, 2021) Doch trotz desdringenden Bedarfs an medizinischer Versorgung wurden mehrere von ihnen von den polnischen Grenzbeamten zurückgewiesen. Dies war u.a.bei einer syrischen Familie der Fall, bei der ein siebenjähriges Kind, das an Zerebralparese leidet,dreimal an der polnischen Grenze zurückgewiesen wurde. (Cincurova, 2021)
Seit Beginn der Krise sind mehr als zwanzig Migranten in den Wäldern entlang der weißrussischen Grenze gestorben. (Ärzte ohne Grenzen, 2021) Unter den Opfern waren ein einjähriges Baby und ein vierzehnjähriges Kind, die im November letzten Jahres tot aufgefunden wurden. (Migranteninfo, 2021) Da internationalen und humanitären Organisationen der Zugang zu dem Gebiet verwehrt wurde, ist es jedoch schwierig, die genaue Zahl der Opfer zu ermitteln. Nichtsdestotrotz scheint Unterkühlung die Hauptursache für die Todesfälle zu sein. Dies ist angesichts des anhaltenden Temperaturrückgangs zu dieser Jahreszeit in dieser Region besorgniserregend.
Auf beiden Seiten der Grenze: Gewalt, Festnahmen und Inhaftierungen
In eklatanter Verletzung des völkerrechtlichen Non-Refoulement-Prinzips, das jedem Staat verbietet, einen Flüchtling in ein Land zurückzuschicken, in dem sein Leben oder seine Freiheit bedroht ist, schicken Weißrussland und Polen systematisch Migranten über die Grenze zurück, ohne dass deren Asylanträge vorher geprüft werden. Eingezwängt in dieses gewalttätige, nicht enden wollende „Pingpong-Spiel“ sind die Familien auch den Übergriffen der Behörden ausgesetzt: körperliche Gewalt, Entzug von Wasser und Nahrung. Auch Kinder werden häufig von einem Elternteil oder von ihren Geschwistern getrennt. (Human Rights Watch, 2021)
Gefangen in dem Hin und Her zwischen Weißrussland und Polen werden Migrantenkinder oft misshandelt und erhalten keine bevorzugte Behandlung. Auf der polnischen Seite werden Kinder und ihre Familien, wenn sie nicht direkt nach Weißrussland zurückgeschickt werden, systematisch von der Einwanderungsbehörde inhaftiert. Diese Maßnahmen wurden von den Vereinten Nationen angeklagt,die daran erinnerten, dass „die Inhaftierung eine außerordentliche Maßnahme als letztes Mittel sein muss und nur für einen begrenzten Zeitraum oder überhaupt nicht angewendet werden darf„. (UN, 2021)
Auf der weißrussischen Seite sind die Familien der ständigen Angst ausgesetzt, in ihr Herkunftsland zurückgeschickt zu werden. Bisher wurden bereits mehrere Tausend Migranten in ihre Heimatländer zurückgeschickt. Diese Lebensbedingungen können sich schwerwiegend auf die körperliche und geistige Gesundheit der Kinder auswirken, deren Trauma unvermeidbar ist.
Was ist der mögliche Ausgang für die Rechte des Kindes?
Von der Missachtung des Asylrechts bis hin zu Menschenrechtsverletzungen – die von Weißrussland inszenierte Migrationskrise beraubt Hunderte von Kindern ihrer grundlegendsten Rechte. Das Recht auf Zuflucht und ein Leben unter menschenwürdigen Bedingungen, das Recht auf eine ausreichende und ausgewogene Ernährung, das Recht auf Schutz vor Gewalt, das Recht auf Gesundheitsversorgung und Bildung sind allesamt Rechte, die durch die Internationale Konvention über die Rechte des Kindes (ICERD) geschützt werden. Dennoch sitzen mehrere Monate nach Beginn der Krise immer noch Hunderte von Kindern vor den Toren der Europäischen Union fest, wo ihre Rechte ganz offensichtlich ignoriert und verletzt werden.
Humanium verurteilt als Organisation die ungerechte Behandlung von Migrantenkindern und arbeitet jeden Tag für die Schaffung einer Welt, in der die Rechte aller Kinder respektiert und geschützt werden. Wir bieten Ihnen die Möglichkeit, zur Förderung der Kinderrechte auf der ganzen Welt beizutragen, indem Sie eine Patenschaft für ein Kind übernehmen, eine Spende tätigen, ehrenamtlich arbeiten oder Mitglied werden.
Geschrieben von: Manon Lanselle
Intern Korrektur gelesen von Aditi Partha
Übersetzt von Margit Bertling
Korrektur gelesen von Andrea Wurth