Die Auswirkungen der „Eltern-Kind-Entfremdung“ auf das Kindeswohl in Fällen häuslicher Gewalt

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Bei Verdacht auf häusliche Gewalt und wenn Kinder involviert sind, ist es von grundlegender Bedeutung, dass die Gerichte versuchen, das Wohl des Kindes in den Vordergrund zu stellen. Wenn dies nicht der Fall ist, riskieren die Gerichte, dass sowohl die Opfer häuslicher Gewalt als auch ihre Kinder traumatisiert werden und weiteren Schaden erleiden. Familiengerichte dürfen sich nicht auf „Eltern-Kind-Entfremdung“ als Rechtfertigung dafür berufen, dass sie den Rechten von Tätern, die häuslichen Missbrauch begehen, den Vorzug gegenüber den Grundrechten der Kinder geben (Birchall, Choudhry, Nicholson-Pallett, 2018). 

Definition von Eltern-Kind-Entfremdung

„Eltern-Kind-Entfremdung“ ist ein weltweit verwendeter Begriff, der sich auf Handlungen bezieht, die Kinder dazu veranlassen, ein Elternteil, häufig den Vater, ungerechtfertigt abzulehnen (United Nations General Assembly, 2023). Der Begriff hat seine Wurzeln in der Psychologie und in der archaischen Überzeugung, dass ein Elternteil, häufig die Mutter, ihr Kind unrechtmäßig dazu bringt, den Vater abzulehnen und sich von ihm zu distanzieren (United Nations General Assembly, 2023). Eltern-Kind-Entfremdung ist also der Vorwurf, dass ein Elternteil ein Kind widerrechtlich dazu drängt, sich von seinem anderen Elternteil zu entfremden.

Im besten Interesse des Kindes

Die Betrachtung dieser Herausforderungen aus der kindlichen Perspektive wirft eine ganze Reihe besonders schwerwiegender Fragen auf. Ungerechtfertigte Entscheidungen zur Eltern-Kind-Entfremdung können dazu führen, dass Kinder physisch oder psychisch missbraucht werden, was ihre Widerstandsfähigkeit untergräbt und ihre Entwicklung behindert (United Nations Human Rights Office of the High Commissioner, 2023). 

Die Gerichte berücksichtigen oft nicht, wie erfolglose Klagen wegen häuslicher Gewalt das bestehende missbräuchliche Umfeld verschlimmern und die Opfer und ihre Kinder zwingen können, den uneingeschränkten Kontakt mit ihren Tätern zu ertragen (United Nations General Assembly, 2023). Muster familiären Missbrauchs erstrecken sich oft auch auf die Kinder; in Kanada wurde festgestellt, dass über 40 % der Fälle von Eltern-Kind-Entfremdung mit häuslicher Gewalt oder Kindesmissbrauch einhergehen (United Nations General Assembly, 2023).

Auch die Voreingenommenheit der Justiz, die die Mütter als potenzielle Manipulatorinnen ansieht, untergräbt die Entscheidungsfreiheit des Kindes (United Nations General Assembly, 2023). Es ist nicht ungewöhnlich, dass missbrauchenden Vätern Besuchs- oder Sorgerechte gewährt werden, selbst wenn körperliche oder sexuelle Gewalt nachgewiesen wurde (United Nations General Assembly, 2023).

Die Gerichte zögern im Allgemeinen auch, Mütter zu schützen, die zum Schutz ihres Kindes handeln. Es kann sogar vorkommen, dass Mütter bestraft werden, wenn sie das Sorgerecht verletzen, um ihr Kind zu schützen (United Nations General Assembly, 2023). 

Mütter geben sogar eher zurückhaltend Informationen über ihren Missbrauch weiter, weil sie befürchten, dass Gerichte sie wegen Eltern-Kind-Entfremdung bestrafen werden. In extremen Fällen, über die in verschiedenen Ländern auf drei Kontinenten berichtet wurde, wurden Kinder ihrer Betreuungsperson entzogen und gezwungen, mit dem Elternteil, der den Missbrauch begangen hat, zusammenzuleben (United Nations General Assembly, 2023).

Im Vereinigten Königreich wurden in den letzten fünf Jahren mindestens vier Kinder von Missbrauchstätern getötet, nachdem Gerichtsurteile ihren Mördern direkten Zugang zu ihnen gewährt hatten (Furst, 2019).

Gesellschaftlich fest verankerte geschlechtsspezifische Vorurteile

Die weltweit vorherrschenden geschlechtsspezifischen Vorurteile und kulturellen Normen haben dazu geführt, dass das Konzept der Eltern-Kind-Entfremdung den Wandel der Zeit überdauert hat. Infolgedessen setzen die Familiengerichte in verschiedenen Rechtsordnungen die Opfer häuslicher Gewalt und ihre Kinder weiterem Schaden aus, indem sie das gemeinsame Sorgerecht in Missbrauchsfällen schützen (United Nations Human Rights Office of the High Commissioner, 2023).

Analysen der Vereinten Nationen haben das häufige Ignorieren glaubwürdiger Beweise für häusliche Gewalt durch Familiengerichte aufgezeigt (United Nations Human Rights Office of the High Commissioner, 2023). 

Insbesondere übersehen die Gerichte oft eindeutige Beweise für zwanghafte Kontrolle, körperlichen und sexuellen Missbrauch, Gewalt in der Partnerschaft und andere erwiesene Misshandlungen (United Nations Human Rights Office of the High Commissioner, 2023). Familiengerichte sind im Allgemeinen der Ansicht, dass ein gemeinsames Sorgerecht vorzuziehen ist, was für die Opfer eine erhebliche Belastung darstellt, da sie ihre Misshandlung nachweisen müssen und das Risiko besteht, dass sie somit zweifach zum Opfer werden. 

In Ländern wie Ungarn sind die Gerichte nicht verpflichtet, in Sorgerechtsfällen eine Vorgeschichte von Gewalt zu berücksichtigen (United Nations General Assembly, 2023). Auch in Italien wurde in 96 % der Trennungsfälle, bei denen häusliche Gewalt im Spiel war, die Gewalt nicht als relevant für das Sorgerecht betrachtet (United Nations General Assembly, 2023).

Obwohl das Konzept der Eltern-Kind-Entfremdung per Definition neutral ist, wird es unverhältnismäßig häufig angewendet. Frauen sind die überwältigende Mehrheit der Opfer von Entscheidungen zur Eltern-Kind-Entfremdung, und dies verschärft sich noch bei Minderheiten, die auch Opfer negativer kultureller und religiöser Stereotypen werden (United Nations Human Rights Office of the High Commissioner, 2023). Frauen sind von Natur aus häufiger von häuslicher Gewalt betroffen und nehmen gleichzeitig seltener die zu ihrer Unterstützung bereitgestellten Dienste in Anspruch (United Nations General Assembly, 2023). 

Statistiken aus den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) zeigen, dass 44 % der Mütter, die von ihren Ehemännern des Missbrauchs beschuldigt werden, das Sorgerecht entzogen wird, im Vergleich zu 28 % der Väter in derselben Situation (United Nations General Assembly, 2023). Schätzungsweise 58.000 Kinder in den USA befinden sich aufgrund solcher Entscheidungen in einem gefährlichen Umfeld (United Nations General Assembly, 2023). In Brasilien wurde in 66 % der Fälle von Eltern-Kind-Entfremdung den Frauen vorgeworfen, sie hätten versucht, ihr Kind zu Unrecht davon zu überzeugen, den Vater abzulehnen (United Nations General Assembly, 2023).

Internationale Rechtsnormen

Das Recht der Kinder darauf, dass ihnen kein Schaden zugefügt wird und dass ihre Interessen berücksichtigt und geschützt werden, ist in zahlreichen internationalen Rechtsvorschriften verankert. Artikel 12 der Kinderrechtskonvention (KRK) verpflichtet die Mitgliedstaaten, dafür zu sorgen, dass Kinder, die in der Lage sind, sich eine eigene Meinung zu bilden, diese frei äußern können und dass diese Meinung in Gerichtsverfahren gebührend berücksichtigt wird (United Nations General Assembly, 2023).

Artikel 19 der KRK schützt Kinder vor allen Formen körperlicher oder seelischer Gewalt sowie vor verschiedenen Formen von Verletzungen, Missbrauch, Vernachlässigung und Misshandlung (United Nations General Assembly, 2023). 

Gewalt gegen Frauen und Kinder ist auch in zahlreichen regionalen Konventionen geächtet, darunter die des Europarats, der Europäischen Union, des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte und der Afrikanischen Union (United Nations General Assembly, 2023). Die internationale Politik verfügt auch über Leitlinien zur Regelung internationaler Sorgerechtsfälle zum Schutz des Kindeswohls und zur Verhinderung von Kindesentführungen, wie das Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte von Kindesentführungen von Den Haag (United Nations General Assembly, 2023).

Weitreichende Auswirkungen

Leider gibt es die Sichtweise, die der Anwendung von Eltern-Kind-Entfremdung vor  Familiengerichten zugrunde liegt, auch außerhalb des Gerichtssaals. Gutachter, die für die Berichterstattung an Familiengerichte zuständig sind, können das häusliche Umfeld durch eine voreingenommene Perspektive betrachten und offensichtliche Anzeichen von Missbrauch übersehen (United Nations Human Rights Office of the High Commissioner, 2023). Das Gleiche gilt für Schutzbehörden, die für die Wahrung der Rechte von Kindern und die Erkennung von Risiken zuständig sind. 

In Brasilien haben sich Anwälte dafür eingesetzt, dass in Fällen von häuslichem Missbrauch keine Maßnahmen unternommen werden, um die Sicht der Opfer in den Mittelpunkt zu stellen (United Nations General Assembly, 2023). Diese Befürchtung erstreckt sich auch auf politische Entscheidungsträger und Regierungen: Das britische Oberhaus hat in Erwägung gezogen, den Begriff „entfremdende Verhaltensweise“ in seine Definition von häuslicher Gewalt aufzunehmen, wodurch die Gefahr besteht, dass die unbegründete Behauptung aufrechterhalten wird, dass Mütter häufig versuchen, ihre Kinder zu manipulieren (Women’s Aid, 2021).

Wege in die Zukunft

Bei der Reaktion auf Bedenken, dass es sich um eine Eltern-Kind-Entfremdung handelt, ist es von entscheidender Bedeutung, dass das Wohl des Kindes im Vordergrund steht. Beispiele aus der ganzen Welt weisen auf Möglichkeiten hin, dies zu erreichen:

Es müssen Systeme eingerichtet werden, die die Beteiligung von Kindern an Gerichtsverfahren fördern. Der Beauftragte für häusliche Gewalt in England und Wales nimmt eine traumabezogene Perspektive gegenüber Kindern ein, um Fälle von Kontrolle durch Zwang zu beobachten. Das Justizsystem im benachbarten Schottland erlaubt es einem Beauftragten für die Rechte von Kindern bei häuslicher Gewalt, einem Gericht Informationen über Kindesmissbrauch zu geben, ohne dass dies extra angefordert werden muss. 

Alle Fachkräfte, die mit Fällen von Sorgerecht, häuslichem Missbrauch und familiärem Wohlergehen zu tun haben, müssen besser ausgebildet werden (Birchall, Choudhry, Nicholson-Pallett, 2018). Diese Ausbildung muss mehrdimensional sein: Fachkräfte, die mit häuslichem Missbrauch und Sorgerechtsfällen zu tun haben, müssen eine spezielle Ausbildung erhalten, und die breite Öffentlichkeit muss sensibilisiert werden, um eine Verhaltensänderung zu bewirken. 

Außerdem müssen Systeme geschaffen werden, um den richtigen Lösungsansatz für das Sorgerecht in Fällen häuslicher Gewalt festzulegen und bestehende Entscheidungen zu überprüfen. Ein Aufsichtsmechanismus für Justizsysteme wird die weitreichende Macht der Gerichte einschränken und es den Gerichtsbarkeiten ermöglichen, sicherzustellen, dass das Wohl des Kindes im Vordergrund steht (Birchall, Choudhry, Nicholson-Pallett, 2018).

Schließlich müssen Systeme geschaffen werden, um die Opfer häuslicher Gewalt und ihre Kinder zu unterstützen, einschließlich spezialisierter Beratungsdienste, die die Opfer befähigen, solide Fälle vor Gericht zu bringen und die Wahrscheinlichkeit zu umgehen, dass die Eltern-Kind-Entfremdung ausgenutzt wird (Birchall, Choudhry, Nicholson-Pallett, 2018).

Humanium setzt sich weiterhin für die Wahrung der Rechte von Kindern ein, einschließlich ihres Rechts auf Schutz und Freiheit von allen Formen des Kindesmissbrauchs. Humanium ist überzeugt, dass Kinder bei der Verwirklichung ihrer Rechte, wie ihrem Recht auf Beteiligung und ihrem Recht auf Schutz vor Gewalt, gestärkt werden müssen. Wenn Sie die Arbeit von Humanium unterstützen möchten, können Sie sich ehrenamtlich engagieren, Mitglied werden oder eine Spende tätigen.

Verfasst von Vanessa Cezarita Cordeiro 

Übersetzt von Katharina Wilhelm

Korrketur gelesen von Beate Dessewffy

Literaturverzeichnis:

Ailes, E., Furst, J. (2019, May 15). “Call for inquiry into abusive parents’ access to children.” Retrieved from BBC News, accessed on 11 September 2023. 

Birchall, J., Choudhry, S., Nicholson-Pallett, P. (2018). “What about my right not to be abused? Domestic abuse, human rights and the family courts.” Retrieved from Queen Mary University of London and Women’s Aid, accessed on 11 September 2023. 

Doughty, J., Maxwell, N., Slater, T. (n.d). “Professional responses to ‘parental alienation’: research-informed practice.” Retrieved from Journal of Social Welfare and Family Law, accessed on 11 September 2023. 

Hunter, R., Burton, M., and Trinder, L. (2020, June). “Assessing risk of harm to children and parents in private law children cases.” Retrieved from Ministry of Justice, accessed on 8 September 2023. 

United Nations General Assembly. (2023, April 13). “Custody, violence against women and violence against children.” Report of the Special Rapporteur on violence against women and girls, its causes and consequences. A/HRC/53/36. Retrieved from United Nations Human Rights Council, accessed 12 September 2023. 

United Nations Human Rights Office of the High Commissioner. (2023, June 23). “Urgent reforms needed to protect women and children from violence in custody battles: UN expert.” Retrieved from United Nations Human Rights Office of the High Commissioner, accessed on 12 September 2023. 

Women’s Aid. (2021, March 4). “Parental alienation: a dangerous and harmful concept.” Retrieved from Women’s Aid, accessed 10 September 2023.