Die Realität der Kinderarmut: Erkenntnisse aus vier europäischen Ländern

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Einem aktuellen Bericht zufolge ist in Europa jedes vierte Kind von Kinderarmut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Die Pandemie und die darauffolgenden Lockdowns sowie die anhaltende Lebenshaltungskostenkrise haben die Ungleichheiten offengelegt, verschärft und die Zahl der gefährdeten Kinder erhöht. In diesem Zusammenhang haben Kinder aus vier europäischen Ländern eine Definition von Armut vorgelegt, die „Geldmangel“ und „Mangel an grundlegenden Ressourcen“, aber auch „Traurigkeit“ und „Anomalie“ umfasst. Dieser Bericht beweist, dass Kinder die Experten für ihre Situation sind und dass sie in den sie betreffenden Angelegenheiten berücksichtigt werden müssen.

Die beunruhigende Wahrheit der Kinderarmut in Europa

Nach den neuesten Daten von Eurostat für 2022 sind 24,7 Prozent (fast 20 Millionen) der Kinder in Europa von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht (Eurochild, Oktober 2023). Im Vergleich zu 2021 ist dieser Anteil leicht um 0,3 Prozentpunkte gestiegen. Auf nationaler Ebene wurden im Jahr 2022 die höchsten Werte in Rumänien (41,5 Prozent), Bulgarien (33,9 Prozent) und Spanien (32,2 Prozent) gemeldet. Dagegen verzeichneten Slowenien (10,3 Prozent), Tschechien (13,4 Prozent) und Dänemark (13,8 Prozent) die niedrigsten Anteile (Eurostat, 2023). 

Die Pandemie und die darauf folgenden Schließungen sowie die anhaltende Lebenshaltungskostenkrise haben Ungleichheiten offengelegt und verschärft und viele Kinder und Familien, insbesondere aus sozial schwachen Schichten, tiefer in die Armut und in die soziale Ausgrenzung gestürzt. Die negativen Auswirkungen von Armut auf die Gesundheit, die Bildung und die allgemeine Entwicklung und das Wohlergehen von Kindern können nicht hoch genug eingeschätzt werden (Eurochild-Bericht, 2023).

Unter diesen Voraussetzungen wurde in einem kürzlich erschienenen Bericht versucht zu erfassen, wie Kinder Armut sehen und wie sie glauben, dass sie ihre Erfahrungen zu Hause, in der Schule, in ihrer Gemeinschaft und mit ihren Freunden beeinflusst. Der Bericht wurde dank der Beiträge von 203 Kindern aus vier Ländern erstellt: Bulgarien, Kroatien, Estland und Malta.

Die Idee des Berichts war es, sich in die Lage der Kinder zu versetzen, die Dinge aus ihrer Perspektive zu sehen und sicherzustellen, dass ihre Stimmen gehört und von den Entscheidungsträgern genutzt werden können, damit die von den Kindern gewünschten Veränderungen Wirklichkeit werden können (Eurochild Report, 2023).

Nationale Ansichten über Kinderarmut: eine vergleichende Analyse

Die von Eurostat untersuchten und in dieser Ausgabe vorgestellten Länder – Bulgarien, Kroatien, Estland und Malta – spiegeln die Bandbreite der Kinderarmut in der Europäischen Union (EU) wider. In Bulgarien sind 33 Prozent der Kinder (1,19 Millionen) von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Dies liegt über dem derzeitigen EU-Durchschnitt von 24,4 Prozent. Malta liegt mit 22,6 Prozent (82.130) nahe am EU-Durchschnitt, die niedrigsten Quoten in diesem Bericht weisen Kroatien mit 18,4 Prozent (691.849) und Estland mit 17,4 Prozent (258.227) auf. 

Die Befragungen von Kindern in den vier Ländern spiegelten unterschiedliche Erfahrungen in verschiedenen sozioökonomischen Situationen wider. So konzentrierte sich die maltesische Fokusgruppe mehr auf die Rolle der Bildung bei der Überwindung der Stigmatisierung von (Kinder-)Armut, während die bulgarischen Kinder die Notwendigkeit innovativer Sensibilisierungsmaßnahmen hervorhoben.

Darüber hinaus konzentrierte sich Kroatien auf die Bedeutung ausreichenden und erschwinglichen Wohnraums und förderte praktische Lösungen zur Armutsbekämpfung, z. B. durch die Förderung von Spendenkampagnen und kostenlosen Schulmahlzeiten. Die estnische Fokusgruppe schließlich hob den wirtschaftlichen Aspekt der Armut hervor, indem sie die Notwendigkeit eines ausreichenden Mindesteinkommens für alle sowie einer gezielten finanziellen Unterstützung für Familien in Armut, einschließlich Kindergeld, betonte (Eurochild-Bericht, 2023).

Wie definieren Kinder Armut?

In der Welt der Erwachsenen kann Armut definiert werden als Menschen mit geringem Einkommen (armutsgefährdete Menschen – AROP), Menschen, die materiell oder sozial stark benachteiligt sind (von sozialer Ausgrenzung bedrohte Menschen – AROPE) oder Menschen, die in einem Haushalt mit sehr geringer Arbeitsintensität leben (AROPE, 2023). Zugleich haben Kinder eine andere Definition von Armut. 

In allen vier Ländern war die häufigste Assoziation der Kinder bei der Diskussion des Begriffs „Armut“ in erster Linie ein Mangel an Geld, gefolgt von einem Mangel an grundlegenden Ressourcen und Notwendigkeiten wie Wasser, Nahrung, Wohnung oder Unterkunft, Heizung und Strom. Diese Vorstellungen wurden begleitet von der Erwähnung „harter Lebensbedingungen“, in denen die Kinder leben, und einer allgemeinen Schwierigkeit, das tägliche Leben zu bewältigen (Eurochild-Bericht, 2023).

„Armut ist das Fehlen von etwas: Manche Menschen sind arm, weil sie keine Freunde haben, andere sind arm an Wissen und so weiter. Die meisten Menschen würden sagen, dass Menschen, die kein Geld haben, arm sind, aber Armut hat nicht nur mit unserem Einkommen zu tun.“

– ein Kind aus Malta (Eurochild-Bericht, 2023) 

Der Mangel an etwas bezieht sich nicht nur auf materielle Dinge, sondern auch auf Wissen, Beziehungen und Gefühle. Zum Beispiel ist die Verbindung zwischen den Auswirkungen von Armut und dem emotionalen Aspekt sehr stark. Mehrere Kinder aus Kroatien und Estland bestätigten diesen Zusammenhang.

Ein Kind aus Estland sagte, dass „arm sein“ bedeutet: „Arm zu sein bedeutet, dass man im Leben kein Glück hat“, und ein anderes Kind fügte hinzu, dass „Armut eine Situation ist, in der man niemanden hat, der einem helfen kann“. Ähnliche Antworten kamen von mehreren Kindern in Kroatien, wobei zwei von ihnen mitteilten, dass der Begriff Armut für sie mit dem Fehlen einer Familie oder dem Gefühl der Traurigkeit verbunden ist (Eurochild Report, 2023).

Was sind die Folgen von Armut für Kinder?

Auf die Frage nach den Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche, die in Armut leben, war die häufigste Antwort, dass sie und ihre Familien nicht genug Geld haben, um Dinge wie Lebensmittel, Heizung, Strom oder Gas zu bezahlen (Eurochild Report, 2023).

Der Mangel an materiellen Dingen ist eines der ersten greifbaren Elemente von Armut, die Kinder am stärksten wahrnehmen, vor allem in der Pubertät, wenn die soziale Akzeptanz durch eine Gruppe Gleichaltriger auch beinhaltet, dass man sich genauso kleidet, spricht und verhält wie die anderen (Encyclopedia of Childrens Health, 2023). Kinder haben möglicherweise nicht die finanziellen Mittel, um an denselben sozialen Aktivitäten teilzunehmen, selbst an so einfachen wie dem „Ausgehen“ mit Gleichaltrigen, und aus diesem Grund könnten sie sich anders fühlen als die anderen Kinder (Eurochild Report, 2023).

So war beispielsweise Mobbing und/oder Ausgrenzung durch Gleichaltrige die am zweithäufigsten genannte Auswirkung von Armut auf Kinder und diejenige, die die meisten Kommentare in den Diskussionen hervorrief, ebenso wie Bemerkungen über die Auswirkungen von Mobbing auf die psychische Gesundheit von Kindern. Die häufigsten expliziten Antworten bezogen sich auf Gefühle der ständigen Sorge, Traurigkeit und Einsamkeit (Eurochild-Bericht, 2023).

Darüber hinaus zeigte die Befragung, dass sich die Kinder der langfristigen Auswirkungen von Armut bewusst sind und unter deren Folgen leiden. Eines der Kinder kommentierte dies wie folgt „[Armut] hat schlechte Auswirkungen, weil die Kinder dann ihr Potenzial nicht entdecken können“ oder weil „sie sich nicht normal entwickeln können“. Ein anderes Kind aus derselben Fokusgruppe fügte hinzu, dass: „Kinder müssen heutzutage lernen zu akzeptieren, dass man nicht alles im Leben haben kann“ – eine Aussage, die darauf hindeutet, dass Armutserfahrungen bei einigen Kindern zu geringeren Ambitionen führen können (Eurochild-Bericht, 2023).

Schule und Zuhause: Orte der Armut für Kinder 

Der Zusammenhang zwischen Armut und Kindern lässt sich auch an einigen spezifischen Orten beobachten, und der Bericht konzentriert sich auf zwei Dimensionen, die Kinder betreffen: Schule und Zuhause. 

Was die Schule betrifft, so ist sie nicht nur ein zentraler Bestandteil der Sozialisierung eines Kindes und seiner Integration in die Gemeinschaft, sondern hat auch das Potenzial, ein mächtiges Vehikel für die soziale Mobilität nach oben zu sein. Dennoch kann Kinderarmut auch als erhebliches Hindernis für Kinder empfunden werden, ihr Potenzial im schulischen Umfeld voll auszuschöpfen. Die Konsultation hat nämlich gezeigt, dass Armut Kinder zur Zielscheibe von Mobbing und sozialer Ausgrenzung in der Schule machen kann (Eurochild-Bericht, 2023).

Darüber hinaus könnten versteckte Bildungskosten im Zusammenhang mit dem Kauf von Schreibwaren, Uniformen und Büchern den Zugang der Kinder zur Bildung behindern oder erschweren. So wurden beispielsweise finanzielle Probleme und Armut von Kindern in Malta und Estland als Faktoren genannt, die den Zugang der Kinder zum Online-Unterricht während der COVID-19-Pandemie und insbesondere während den Lockdowns behinderten (Eurochild-Bericht, 2023). 

Im häuslichen Umfeld manifestiert sich die Armut ganz konkret. Kinder könnten es sich nicht leisten, in ihren Wohnungen zu bleiben, und würden entweder vertrieben oder gezwungen, umzuziehen, vielleicht sogar regelmäßig, oder ihre Lebensqualität würde sinken, da ihre Wohnungen in einem schlechteren Zustand wären, weil sie kälter, feuchter oder ohne (warmes) fließendes Wasser wären.

Die Kinder berichteten auch, dass das Leben in Armut auch zu kleineren Unterkünften führen kann, was einen völligen Mangel an privaten Räumen und damit an Privatsphäre zur Folge hat. Dies „kann oft zu einer sehr schlechten Atmosphäre führen“, so ein Kind aus Kroatien. In jeder Länderkonsultationsgruppe bezeichneten die Kinder die Armut als etwas, das zu Spannungen im häuslichen Umfeld, ständigen Streitereien und Wut der Kinder auf ihre Eltern beitragen kann (Eurochild-Bericht, 2023). 

Gemeinschaften als Schlüsselakteure bei der Bekämpfung von Kinderarmut

Die Gemeinschaft, in der Kinder aufwachsen, spielt eine grundlegende Rolle bei der Gestaltung ihrer Entwicklung und ihres Wohlbefindens. Gesunde Beziehungen in der Gemeinschaft können das Gefühl der Zugehörigkeit stärken. Im Gegensatz dazu kann Isolation das Gefühl der Entfremdung verstärken und das Identitäts- und Selbstwertgefühl der Kinder beeinträchtigen (Eurochild-Bericht, 2023).

In diesem Sinne ist es wichtig, das Bewusstsein für die Ursachen von Armut auf allen Ebenen zu fördern und Chancen zu schaffen, um die Kluft zwischen Kindern, die in Armut leben, und anderen zu schließen. Alle Kinder sollten Zugang zu den gleichen Chancen haben, und sie alle haben das Recht, ihre Persönlichkeit, ihre Talente und ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zu entfalten (Artikel 29 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes) (CRC, 2023). 

Darüber hinaus beweist der Bericht, wie wichtig die Beteiligung von Kindern an politischen Diskussionen über alle Aspekte ist, die sich auf das Leben von Kindern auswirken. Ihre Erfahrungen und Stimmen verdeutlichen, dass Kinder Experten für ihr eigenes Leben sind und dass niemand ihre Realität besser verstehen kann als sie selbst. Die politischen Entscheidungsträger und die Gemeinschaft als Ganzes müssen Kinder in die öffentliche Debatte über sie betreffende Angelegenheiten einbeziehen und entsprechende Kanäle und Plattformen unterstützen. 

„Die Stimmen der Kinder sind bei der Entscheidungsfindung immer noch unterrepräsentiert, insbesondere bei Diskussionen über Kinderarmut. Mit unserem Bericht stellen wir die Perspektive der Kinder in den Mittelpunkt, denn niemand versteht die Lebenserfahrungen von Kindern besser als sie selbst.“

– H.E. Marie-Louise Coleiro Preca, Eurochild-Präsidentin (Eurochild-Bericht, 2023)

In diesem Sinne setzt sich Humanium kontinuierlich für die Bekämpfung der Ursachen von Kinderarmut ein, indem es Projekte durchführt, die das Leben von unterprivilegierten Kindern weltweit verbessern sollen. Wenn Sie sich uns anschließen und unsere Arbeit unterstützen möchten, können Sie eine Spende tätigen, eine Patenschaft übernehmen oder sogar als Freiwilliger tätig werden. 

Geschrieben von Arianna Braga 

Übersetzt von Mathilda Castel

Korrektur gelesen von Marie Podewski

References: 

AROPE (2023). Glossary: At risk of poverty or social exclusion (AROPE). Retrieved from Eurostat at https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Glossary:At_risk_of_poverty_or_social_exclusion_(AROPE), accessed on 10 November 2023. 

CRC (2023). Convention on the Rights of the Child. Retrieved from OHCHR at https://www.ohchr.org/en/instruments-mechanisms/instruments/convention-rights-child, accessed on 10 November 2023. 

Encyclopedia of Children’s Health (2023). Peer acceptance. Retrieved from Encyclopedia of Children’s Health at http://www.healthofchildren.com/P/Peer-Acceptance.html, accessed on 10 November 2023. 

Eurochild (October 2023). Poverty takes away the right to childhood. Retrieved from Eurochild at https://eurochild.org/resource/poverty-takes-away-the-right-to-childhood/, accessed on 10 November 2023. 

Eurostat (2023). 25% of children at risk of poverty or social exclusion in 2022. Retrieved from Eurostat at https://ec.europa.eu/eurostat/web/products-eurostat-news/-/ddn-20230927-1, accessed on 10 November 2023.