Im Irak bedroht eine besorgniserregende Gesetzesänderung die Rechte von Kindern und Frauen. Die vorgeschlagene Änderung des Personenstandsgesetzes ist darauf ausgerichtet, religiöse Ehen zu legitimieren, was die Tür für Kinderehen bereits im Alter von neun Jahren öffnet. Diese Gesetzesänderung untergräbt nicht nur die Fortschritte, die in Richtung Geschlechtergleichheit gemacht wurden, sondern bringt auch die Gesundheit, die Bildung und den rechtlichen Schutz von Mädchen und jungen Frauen in ernsthafte Gefahr. Die Auswirkungen dieser Änderung sind tiefgreifend und unterstreichen die dringende Notwendigkeit von Reformen, welche die Rechte und das Wohlergehen der am meisten gefährdeten Gruppen im Irak priorisieren.
Das irakische Personenstandsgesetz
Nach der geltenden Gesetzgebung im Irak, dem Personenstandsgesetz („PSG“) und seinen Änderungen von 1959, allgemein bekannt als Gesetz 188, ist das gesetzliche Mindestalter für die Eheschließung auf 18 Jahre festgelegt, ungeachtet der Tatsache, dass Einzelpersonen mit Genehmigung eines Richters bereits mit 15 Jahren heiraten dürfen, wie in den Artikeln 7 und 8 festgelegt ist. Das Gesetz regelt Ehe, Scheidung, Sorgerecht und Erbschaft allumfassend (Girls Not Brides, 2024; Atlantic Council, 2024).
Das irakische Gesetz von 1959 wurde stark von der Irakischen Frauenliga beeinflusst und galt als eines der fortschrittlichsten Gesetze in der Region. Als eines der liberalsten Gesetze im Nahen Osten übertrug es die Zuständigkeit für Familienangelegenheiten von den religiösen Behörden auf den Staat und sein Justizsystem (Time, 2024; Le Monde, 2024). Der Irak versuchte bereits in den 1960er Jahren dieses Gesetz zu ändern und unternahm in den folgenden Jahrzehnten wiederholt erfolglose Versuche, insbesondere zuletzt im Jahr 2014 und 2017 (Time, 2024; Atlantic Council, 2024).
Die Zahlen zur Kinderheirat im Irak
Trotz der Tatsache, dass der Irak seit den 1950er Jahren Eheschließungen unter 18 Jahren verboten hat, bleibt es eines der Länder mit der höchsten Rate an Kinderehen weltweit, 7 % der Mädchen wurden verheiratetet, bevor sie 15 Jahre alt geworden sind (The Guardian, 2024).
Zudem steigt die Rate der Kinderheiraten weiter an, mit niederschmetternden 28 % irakischer Mädchen, die vor der Volljährigkeit mit 18 Jahren verheiratet worden sind. Darüber hinaus sind 22 % der nicht registrierten Ehen im Irak mit Mädchen unter vierzehn Jahren geschlossen worden, bei vielen dieser Mädchen wurden Mängel im Rechtssystem ausgenutzt (Atlantic Council, 2024; Girls Not Brides, 2024; Human Rights Watch, 2024).
Die Auswirkungen der vorgeschlagenen Änderung
Das irakische Parlament, das sich mehrheitlich aus konservativ islamistischen Parteien zusammensetzt, schloss seine erste Lesung des Gesetzesentwurfs am 4. August 2024 ab und wird „zwei weitere Lesungen des Gesetzesentwurfs durchführen und eine Debatte abhalten, bevor es darüber entscheidet, ob der Entwurf als Gesetz verabschiedet wird“ (Atlantic Council, 2024; Human Rights Watch, 2024).
In der Tat strebt das irakische Parlament derzeit eine Änderung des Personenstandsgesetzes an, welche eher die religiösen Autoritäten im Irak, als den Staat dazu berechtigen würde Familienangelegenheiten zu regeln, einschließlich der Heirat und Erbschaft (Human Rights Watch, 2024; Girls Not Brides, 2024). Das überarbeitete PSG würde den Familien erlauben zu wählen, ob sie die Ehe nach dem geltenden Gesetz von 1959 oder nach einer konfessionellen Auslegung vollziehen wollen.
Wenn sich die Familie für eine konfessionelle Auslegung entscheidet, wird sie zwischen dem sunnitischen und dem schiitischen Rechtssystem wählen müssen. Hierüber gibt es erhebliche Bedenken, da die religiösen Interpretationen weitgehend voneinander abweichen und solche Befugnisse auf religiöses Recht zu übertragen schwerwiegende Folgen haben würde.
Besonders besorgniserregend ist dabei, dass sich dann das Heiratsalter für Mädchen auf 9 Jahre senken würde (Atlantic Council, 2024; Girls Not Brides, 2024). Darüber hinaus verpasst es die Gesetzesänderung sich angemessen mit der fehlenden Durchsetzung von bestehenden Gesetzen und der Straffreiheit von religiösen Führern zu befassen.
Als solcher, würde der Gesetzesentwurf die UN-Kinderrechtskonvention verletzten, die der Irak 1994 ratifiziert hat, indem er die Kinderheirat legalisiert und Mädchen der Gefahr der Zwangsehe und Zwangsheirat aussetzt. Weiter würde er gegen das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (CEDAW) verstoßen, das der Irak 1986 ratifiziert hat, da Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts ihrer Rechte beraubt werden würden.
Er würde auch gegen den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte verstoßen, da bestimmten Personen ihre Rechte aufgrund der Religion vorenthalten werden würden (Human Rights Watch, 2024; UNDP, 2018).
Schwerwiegende Auswirkungen des vorgeschlagenen Gesetzes auf die Rechte von Mädchen und Frauen im Irak
Die schwerwiegenden Folgen für die Rechte von Mädchen und Frauen erstrecken sich auf ihre Grundrechte auf Leben, Gesundheit, Bildung und Schutz.
Ungleichheit zwischen den Geschlechtern
Die Verabschiedung dieser Gesetzesänderung würde einen zutiefst beunruhigenden Rückschritt beim Schutz der Rechte von Kindern und der Gleichstellung der Geschlechter darstellen. Durch die Legalisierung der Kinderheirat für Mädchen bereits im Alter von neun Jahren, gefährdet der Irak nicht nur die Rechte und das Wohlergehen zahlloser Mädchen, sondern droht auch, seine eigenen Fortschritte auf dem Weg zu einer gleichberechtigteren und integrativen Gesellschaft zu sabotieren (Atlantic Council, 2024)
Verweigerung der Bürgerrechte
Nicht gerichtlich registrierte Ehen verwehren Mädchen den Zugang zu bürgerlichen Rechten wie Erbschaft und Sorgerecht für Kinder, was sie verwundbarer macht und jeglicher rechtlichen Absicherung beraubt. In Ermangelung offizieller Dokumente sind Frauen und Mädchen Ausbeutung, Missbrauch und Vernachlässigung verstärkt ausgesetzt, und ihr Zugang zur Justiz ist eingeschränkt (Atlantic Council, 2024).
Beschränkung des Zugangs zu Gesundheitsdiensten
Ohne standesamtliche Heiratsurkunde ist es Frauen und Mädchen nicht erlaubt in Krankenhäusern zu entbinden und sie sind gezwungen, bei schlechter medizinischer Versorgung und begrenztem Zugang zu geburtshilflichen Notdiensten zu gebären. Diese Situation erhöht das Risiko von „lebensbedrohlichen medizinischen Komplikationen für beide, Mutter und Baby“ (Human Rights Watch, 2024).
Verlust bestimmter Erbrechte und Schutzmaßnahmen bei Scheidung
Nach geltendem Recht erben Töchter einen geringeren Anteil des Nachlasses ihrer Eltern als ihre männlichen Geschwister. Gemäß bestimmter religiöser Regeln, würden Töchter jedoch einen noch kleineren Anteil erben, und wenn die Familie keinen Sohn hat, der den Nachlass erbt, würde dieser an den Staat fallen (Human Rights Watch, 2024).
Ohne die rechtliche Anerkennung eines Ehevertrags werden Frauen außerdem nur begrenzten Zugang zu finanzieller Unterstützung oder Unterhaltszahlungen im Falle einer Scheidung haben, was die Ungleichheit der Geschlechter, die Kreisläufe der Armut und der Abhängigkeit aufrechterhalten würde (Human Rights Watch, 2024; Atlantic Council, 2024).
Der Aufschrei der Zivilgesellschaft über diesen Rückschlag für die Gleichstellung der Geschlechter
Irakische Frauen haben immer „eine aktive Rolle in der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung des Irak gespielt“ (Human Rights Watch, 2003). Frauen haben kontinuierlich gegen die im irakischen Rechtssystem verankerten patriarchalischen Normen gekämpft, und seither gibt es eine stabile Zivilgesellschaft (Human Rights Watch, 2024). In der Tat haben zahlreiche zivilgesellschaftliche- und Frauengruppen gegen das Gesetz mobilisiert und landesweit dagegen demonstriert.
Auch gibt es mehr als 15 Parlamentarierinnen aus verschiedenen Parteien, die sich zu einer Koalition zusammengeschlossen haben, um sich seiner Verabschiedung zu widersetzen (Time, 2024; Human Rights Watch, 2024; Middle East Eye, 2024). Insgesamt kam es in Bagdad, Basra, Dhi Qar, Babil, Diwaniyah, Kirkuk und Nadschaf zu Protesten gegen die vorgeschlagene Gesetzesänderung (Middle East Eye, 2024).
„Wir fordern die politischen Entscheidungsträger auf, diese Vorschläge abzulehnen und sich stattdessen auf die Stärkung des Schutzes von Frauen und Kindern zu konzentrieren.“
– Tamara Amir, Geschäftsführerin der irakischen Plattform für Frauenrechte
Kinderheirat ist ein anhaltendes Problem, das jedes Jahr die Rechte, die Autonomie und die Chancen von weiteren 12 Millionen Mädchen bedroht. Organisationen der Zivilgesellschaft spielen eine wesentliche Rolle durch Überprüfen und regelmäßiges kontrollieren, wie die Staaten ihren Menschenrechtsverpflichtungen nachkommen und bei der Förderung einer besseren Umsetzung der Menschenrechtsvorschriften (Girls Not Brides, 2024).
Das Gebot, die Interessen der Mädchen in den Mittelpunkt aller Überlegungen zu stellen
Die irakische Regierung muss sicherstellen, dass die Interessen von Frauen und Kindern im Zentrum der Überlegungen und des Entscheidungsprozesses stehen und gesetzliche und politische Initiativen in Angriff nehmen, um die Kinderheirat im Einklang mit den Standards des internationalen Rechts zu beenden, indem sie die bestehenden Gesetze gegen Kinderheirat durchsetzt und zusätzlich den rechtlichen Schutz der Frauen und Mädchen gewährt wird, verbessert (Girls Not Brides, 2024; UN Assistance Mission for Iraq & UN Human Rights Council, 2024).
Derzeit wird der Irak vom Ausschuss für die Rechte des Kindes und vom Ausschuss für die Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau überprüft. Zivilgesellschaftliche Organisationen und Regierungen müssen zu diesen Überprüfungen beitragen, indem sie sicherstellen, dass die Kinderehe auf der Tagesordnung steht und indem sie den Irak auffordern, alle rechtlichen und politischen Maßnahmen zu ergreifen, um die Kinderehe vorrangig zu beenden (Girls Not Brides, 2024).
Darüber hinaus spielen internationale Organisationen und Nichtregierungsorganisationen eine entscheidende Rolle bei der Unterstützung und Bereitstellung von Ressourcen für Bildungsprogramme und Rechtsreformen, die durch die lokale Zivilgesellschaft gelenkt werden, um sicherzustellen, dass Kinder und Frauen ihre Grundrechte tatsächlich wahrnehmen können.
Als Kinderrechtsorganisation, die aktiv weltweit zahlreiche Projekte durchführt, sieht sich Humanium dazu verpflichtet, das Bewusstsein für die Abschaffung der Kinderheirat zu schaffen und die Menschenrechte der Kinder auf Gesundheit, Schutz und Bildung zu schützen. Wenn Sie zu den spezifischen Themen von Humanium etwas beitragen möchten, um das Leben von Kindern zu verbessern, können Sie spenden, sich ehrenamtlich engagieren oder Mitglied werden.
Verfasst von Moïra Phuöng Van de Poël
Übersetzt von Katharina Wilhelm
Korrektur gelesen von Alexandra Dantl
Quellenangaben:
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