Anfang März 2024 spitzt sich die Sicherheitskrise in Nigeria zu: Über 380 Kinder wurden von der islamistischen Terroristengruppe Boko Haram im Nordosten des Landes und anderen kriminellen Gruppen im Nordwesten entführt. Dank der Verhandlungen zwischen der Regierung und den Bewaffneten wurden 137 Schüler freigelassen, aber viele weitere werden noch immer als Geiseln gehalten, darunter 98 Schülerinnen der Chibok-Entführung im Jahr 2014. Die Regierung hat mehrere Massnahmen gegen die Entführung von Schülern und Schülerinnen ergriffen, aber die neuen Vorfälle zeigen, dass noch mehr getan werden muss.
Seit Februar 2024 wurden über 380 Kinder entführt
Am 7. März 2024 entführten Anhänger krimineller Gruppierungen – vor Ort „Banditen“ genannt – 287 Schüler, darunter viele Mädchen, aus der öffentlichen Sekundarschule in der Stadt Kuriga im nordwestlichen Bundesstaat Kaduna. Zwei Tage später drangen Banditen in ein Internat im Dorf Gidan Bakuso im Bundesstaat Sokoto ein und entführten 15 Kinder, während sie schliefen. Die Entführungen gehen weiter. Zuletzt wurden am 18. März über 87 Menschen in der Gemeinde Kajuru im Bundesstaat Kaduna entführt (Ewang, 2024).
Glücklicherweise wurden am 24. März 2024 137 Schüler, die zuvor von bewaffneten Männern aus einer Schule in Kaduna entführt worden waren, „unversehrt“ freigelassen, wenige Tage vor der für den 7. April 2024 festgesetzten Frist für die Lösegeldzahlung (Aljazeera, 2024). Der Gouverneur von Kaduna, Uba Sani, und die Schulbehörden machten widersprüchliche Angaben über die Zahl der am 7. März 2024 entführten Schüler, die sich auf 137 bzw. 287 beliefen. Solche Diskrepanzen sind typisch für die nigerianische Entführungskrise und häufig auf schlechte Aufzeichnungen oder die sofortige Flucht einiger Geiseln zurückzuführen (Asadu, 2024).
Die bewaffneten Männer aus Kaduna verlangten insgesamt 1 Milliarde Naira (680.000 USD) für die Freilassung der Kinder und Mitarbeiter und drohten damit, die Opfer zu töten, wenn die Zahlungen nicht innerhalb von 20 Tagen geleistet würden. Der nigerianische Präsident Bola Tinubu sagte jedoch, er werde „keinen Cent zahlen“, nachdem diese Praxis 2022 verboten wurde, um gegen die Kidnapper vorzugehen. Diesem Gesetz zufolge droht Lösegeldzahlern eine Haftstrafe von bis zu 15 Jahren (Aljazeera, 2024).
#BringBackOurGirls: der Präzedenzfall von Chibok
Die jüngste Entführung in Kuriga erinnert an den Fall der Schulmädchen in Chibok, einer Stadt im nordöstlichen Bundesstaat Borno. Es war im April 2014, als die bewaffnete islamistische Gruppe Boko Haram 276 Mädchen aus einer öffentlichen Sekundarschule entführte und damit weltweit Empörung auslöste.
Einige der Mädchen konnten aus eigener Kraft aus der Gefangenschaft fliehen. Einige andere wurden später freigelassen, nachdem Menschenrechtsorganisationen in den sozialen Medien die Kampagne #BringBackOurGirls gestartet und die Regierung Verhandlungen geführt hatten. Von den ursprünglich entführten Mädchen werden jedoch immer noch 98 von Boko Haram festgehalten.
Während ihres Aufenthalts bei den Entführern haben viele der Mädchen sexuelle Gewalt erfahren, wurden zum Kämpfen ausgebildet oder zu Selbstmordattentaten ermutigt. Die Rettungsbemühungen der nigerianischen Regierung und des Militärs werden fortgesetzt und viele Überlebenden kehren nach Hause zurück. Jedoch erweist sich ihre Reintegration und die ihrer in Gefangenschaft geborener – und durch sexuelle Gewalt von Boko Haram Mitgliedern entstandene – Kinder als schwierig.
Das Bildungswesen in Nigeria ist unter Beschuss
Bildung ist für das Wachstum und die Entwicklung eines Landes von entscheidender Bedeutung. Obwohl die Regierung in Nigeria eine kostenlose und obligatorische Grundschulbildung eingeführt hat, hat die Angst vor der Entführung ihrer Kinder jedoch viele Eltern in den Krisengebieten im Nordosten und Nordwesten des Landes dazu veranlasst, ihre Kinder ganz aus der Schule zu nehmen. Sie wollen das Risiko vermeiden. Nach Angaben von UNICEF stammen 66 % aller Kinder, die in Nigeria nicht zur Schule gehen, aus nordöstlichen und nordwestlichen Gebieten. Sie gehören zu den ärmsten Regionen des Landes (Salako, 2024).
Für einige Mädchen können die Folgen sogar noch schlimmer sein als nur keine Schulbildung zu bekommen: um zu verhindern, dass sie entführt werden oder ihnen Schlimmeres zustösst, beschliessen einige Eltern, ihre Töchter früh zu verheiraten. Mehr als die Hälfte der Mädchen in Nigeria besucht derzeit nicht einmal die Grundschule, und 48 % davon stammen aus dem Nordosten und Nordwesten des Landes (Salako, 2024).
Massenentführungen florieren in Nigeria
Im Jahr 2014 waren die Täter hauptsächlich Anhänger von islamischen Terroristengruppen wie Boko Haram. Sie wollten die Familien davon abhalten, Jungen und Mädchen zur Schule zu schicken, indem sie verkündeten, dass „westliche Bildung eine Sünde“ sei. Ihr Ziel war es, die strengste Version des Islam durchzusetzen.
Im Moment werden Entführungen gegen Lösegeld von kriminellen Banden organisiert, die eher daran interessiert sind, reich zu werden, als eine Ideologie zu verbreiten (Sibani, 2024). Terroristen und andere Kriminelle entscheiden sich für diese Art von Angriffen auf Schulen und Bildungseinrichtungen und die Entführung von Schülern und Lehrern, um der Regierung einen Schlag zu versetzen und die nötige Aufmerksamkeit und vor allem die Lösegeldzahlung zu erhalten (Save the Children, 2023).
In armen Gebieten werden Lösegelder oft in Form von Lebensmitteln, Treibstoff oder Fahrzeugen gezahlt (Sibani, 2024). In den meisten Fällen sind Entführungen jedoch wie zu einem eigenen Wirtschaftszweig geworden, da die Entführer Millionen von Naira an Lösegeldzahlungen kassieren. Zwischen Juli 2022 und Juni 2023 wurden in 582 Entführungsfällen 3.620 Menschen entführt und rund 5 Milliarden Naira (3.878.390 USD) an Lösegeld gezahlt (Salako, 2024). Zuvor wurden zwischen 2011 und 2020 über 18 Millionen USD an Lösegeld gezahlt (Sibani, 2024).
Die Rolle der Regierung im Kampf gegen Entführungen
Nach dem Chibok-Fall hat die nigerianische Regierung die «Erklärung über sichere Schulen» unterzeichnet, eine internationale politische Verpflichtung zum Schutz vor Angriffen im Bildungswesen und zum Schutz von Schulen vor militärischer Nutzung, die sie zu strategischen Zielen macht. Im Mai 2014 verabschiedete die Regierung mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft und nigerianischer Wirtschaftsführer ausserdem eine Initiative für sichere Schulen in Nigeria.
Ziel der Initiative war es, mit einem Startkapital von 10 Mio. USD weitere Mittel zu beschaffen, um Schulen sicherer zu machen, z. B. durch deren Verlegung in sicherere Gebiete und die Schaffung eines Modells für sichere Schulen in Borno, Adamawa und Yobe, den drei am stärksten vom Boko-Haram-Aufstand betroffenen Bundesstaaten. Die Multi-Stakeholder-Initiative hatte mit einigen Problemen zu kämpfen, und die Dynamik hat im Laufe der Jahre nachgelassen. Daher konnten bei der Verstärkung der Sicherheit der Schulen wenige oder gar keine Fortschritte erzielt werden (HRW, 2024).
Zusätzlich verabschiedete Nigeria im Jahr 2022 ein Gesetz, das die Zahlung von Lösegeld für die Freilassung von Entführten mit mindestens 15 Jahren Gefängnis bestraft und das Entführungen mit dem Tod bestraft, wenn das Opfer stirbt (Aljazeera, 2022). Dennoch werden häufig Lösegelder für Entführungen gezahlt, meist von den betroffenen Familien, und Beamte in Nigeria geben nur selten zu, dass diese Zahlungen getätigt wurden.
Mehr Einsatz und Unterstützung für entführte Kinder
Trotz des grossen Engagements von Menschenrechtsorganisationen, die den Staat dazu bringen wollten, effektive Massnahmen für die Freilassung der Chibok-Mädchen zu ergreifen, sah die nigerianische Regierung in der Vergangenheit und Gegenwart die Aktivitäten von #BringBackOurGirls eher als Bedrohung denn als Aufruf zu kollektiver Verantwortung.
Die hartnäckige und konsequente Forderung von #BringBackOurGirls nach Freilassung der Chibok-Mädchen und anderer in Boko-Haram-Gefangenschaft befindlicher Mädchen verärgerte die frühere Regierung, denn ihre Reaktion auf die Entführung wurde damit einer internationalen Prüfung unterzogen (Adebiyi, 2020).
Im Gegensatz dazu ist es von aussen betrachtet klar, dass Menschenrechtsorganisationen und die internationale Gemeinschaft insgesamt eine wichtige Rolle bei der Freilassung der Mädchen gespielt haben und das Problem der Entführungen in Nigeria in den Mittelpunkt gestellt hat – und weiterhin stellt.
In diesem Zusammenhang setzt sich Humanium als Nichtregierungsorganisation (NGO), die sich für die Rechte von Kindern einsetzt, für die Freilassung entführter Kinder ein und fördert einen offenen Dialog, um Einzelpersonen und Organisationen zur Unterstützung dieses Anliegens zu bewegen. Unterstützen auch Sie Humanium, indem Sie eine Patenschaft für ein Kind übernehmen, eine Spende tätigen, Mitglied werden oder uns ehrenamtlich helfen!
Geschrieben von Arianna Braga
Übersetzt von Helga Burgat
Korrektur gelesen von Beate Dessewffy
Quellenverzeichnis:
Adebiyi K. (2020). Mitigating the Impact of Media. Reporting of Terrorism – Case Study of the #BringBackOurGirls Campaign. Retrieved from ICCT – International Centre for Counter-Terrorism at https://www.icct.nl/sites/default/files/2022-12/StratComms-Report-Nigeria-FINAL.pdf, accessed on 12 May 2024.
Aljazeera (2022). Nigeria outlaws ransom payments, kidnap now punishable by death. Retrieved from Aljazeera at https://www.aljazeera.com/news/2022/4/27/nigeria-outlaws-ransom-payments-abduction-punishable-by-death, accessed on 5 May 2024.
Aljazeera (2024). More than 130 kidnapped Nigerian students released: Government spokesman. Retrieved from Aljazeera at https://www.aljazeera.com/news/2024/3/24/hundreds-of-kidnapped-nigerian-students-released-after–more-than-two-weeks, accessed on 5 May 2024.
Asadu, C. (2024). Over 130 abducted schoolchildren in Nigeria’s northwest are rescued after weeks in captivity. Retrieved from AP News at https://apnews.com/article/nigeria-school-kidnapping-kaduna-kuriga-released-4afc5681954d75c3c790a1ebe4263056, accessed on 5 May 2024.
HRW (2024). Nigeria: 10 Years After Chibok, Schoolchildren Still at Risk. Retrieved from Human Rights Watch at https://www.hrw.org/news/2024/04/11/nigeria-10-years-after-chibok-schoolchildren-still-risk, accessed on 5 May 2024.
Premium Times (2024). Tinubu vows not to pay ransom to kidnappers of Kaduna students, others. Retrieved from Premium Times at https://www.premiumtimesng.com/news/top-news/677126-tinubu-vows-not-to-pay-ransom-to-kidnappers-of-kaduna-students-others.html, accessed on 5 May 2024.
Salako P. (2024). Why mass kidnappings still plague Nigeria a decade after Chibok abductions. Retrieved from Aljazeera at https://www.aljazeera.com/features/2024/4/3/why-mass-kidnappings-still-plague-nigeria-a-decade-after-chibok-abductions, accessed on 5 May 2024.
Save the Children (2023). Education under attack in Nigeria. retrieved from Save the Children at https://resourcecentre.savethechildren.net/pdf/ATTACK-ON-EDUCATION.pdf/, accessed on 5 May 2024.
Sibani, F. (2024). Il ritorno dei rapimenti in Nigeria. Retrieved from Internazionale at https://www.internazionale.it/notizie/francesca-sibani/2024/03/15/rapimenti-nigeria, accessed on 7 May 2024.
The Guardian (2024). Nigerian army rescues students kidnapped two weeks ago. Retrieved from The Guardian at https://www.theguardian.com/world/2024/mar/23/nigerian-army-rescues-students-kidnapped-two-weeks-ago, accessed on 5 May 2024.