COVID-19 hat weltweit bereits bestehende soziale Problemlagen verschärft und vorhandene Menschenrechtsprobleme verstärkt. In der sogenannten MENA-Region (Naher Osten und Nordafrika) sehen sich Kinder aus gefährdeten Bevölkerungsschichten – insbesondere Mädchen – mit einer Reihe neuer Schwierigkeiten konfrontiert, wozu auch ein erhöhtes Risiko für eine Kinderheirat zählt. Eine kürzlich veröffentlichte Stellungnahme von UNICEF prognostiziert, dass durch die Pandemie weltweit 10 Millionen zusätzliche Mädchen dem Risiko einer Kinderheirat ausgesetzt sein könnten (Diab, 2021).
Von weltweit 650 Millionen Kinderbräuten entfallen 40 Millionen auf die MENA-Region. Es besteht deshalb zunehmend die Sorge, dass in Folge der Pandemie die Zahl früh zwangsverheirateter Mädchen steigen könnte (UNICEF, 2021). Besonders unter syrischen Flüchtlingsgruppen besteht die Gefahr einer in der ganzen Region rasch ansteigenden Zahl von Kinderehen.
Die Definition von Kinderehe
Eine Kinderehe – auch als „Frühehe“ bezeichnet – wird grob definiert als ein rechtlicher oder durch Brauchtum entstandener Zusammenschluss, bei dem ein Mädchen oder ein Junge unter 18 Jahren beteiligt ist (UNICEF, 2021). Ehen, die ohne die eigene Zustimmung geschlossen werden, bezeichnet man als „erzwungene Ehen“. Kinderehen fallen häufig unter diese weitergefasste Kategorie, da Kinder unter 18 Jahren laut zahlreicher Rechtsordnungen noch nicht in der Lage sind, ein gültiges Einverständnis zu geben (UNICEF, 2021).
Es gibt über 650 Millionen Mädchen und Frauen auf der Welt, die als Kinderbräute verheiratet wurden (UNICEF, 2021). Aus der MENA-Region gehen jährlich ca. 700.000 Kinderbräute hervor; in der Region ist eines von fünf Mädchen bereits vor dem 18. Lebensjahr verheiratet, was nahezu dem globalen Durchschnittswert entspricht (UNICEF, 2021). Eine Kinderehe ist eine „schwere Menschenrechtsverletzung“, die den Kindern häufig weitere Rechte entzieht, u.a. das Recht auf Bildung, Gesundheit und Wohlbefinden (UNICEF, 2021).
Mädchen sind von Kinderehen überproportional häufig betroffen. Eine Kinderehe ist eine weit verbreitete Erscheinungsform geschlechtsspezifischer Gewalt, die das noch immer existierende Patriarchat und die weiterhin vorherrschenden Geschlechterungleichheiten offenbart (UNICEF, 2021).
Der internationale Ordnungsrahmen zum Schutz von Kindern vor Kinderehen wird durch zahlreiche Instrumente konkretisiert. Artikel 19 der UN-Kinderrechtskonvention verpflichtet die Staaten dazu, alle geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um Kinder vor Formen von „physischer oder psychischer Gewalt, Verletzung oder Missbrauch, Verwahrlosung oder Vernachlässigung, Misshandlung oder Ausbeutung, einschließlich sexuellem Missbrauch während der Betreuung durch Eltern(teile), Erziehungsberechtigte oder andere Betreuungspersonen“ zu schützen (United Nations General Assembly, 1989). Gemäß Artikel 19 umfassen diese Verpflichtungen auch die Verantwortung, Sozialprogramme und Schutzmechanismen bereitzustellen, um Vorfälle von Kindesmisshandlung sowohl zu verhindern als auch nachverfolgen zu können (United Nations General Assembly, 1989).
Die gezielte Viktimisierung von Frauen in Kinderehen ist Inhalt der „Konvention der Vereinten Nationen zur Beseitigung der Diskriminierung von Frauen„. Dieses Übereinkommen ruft die Staaten dazu auf, eine Diskriminierung von Frauen „in allen Eheangelegenheiten“ zu unterbinden (United Nations General Assembly, 1979). Zudem sollen die Staaten sicherstellen, dass Jungen und Mädchen gleichermaßen frei entscheiden können, ob und wann sie heiraten möchten (United Nations General Assembly, 1979).
Auf regionaler Ebene schützt Artikel 21 der Afrikanischen Charta für die Rechte und das Wohlergehen des Kindes Kinder vor schädlichen sozialen und kulturellen Praktiken (African Union, 1990). Darüber hinaus werden die Vertragsstaaten durch die Charta dazu verpflichtet, jegliche Praktiken zu beseitigen, die schädlich für die Gesundheit des Kindes sind und dieses aufgrund seines Geschlechts oder eines anderen Merkmals diskriminiert (African Union, 1990). Die Charta verbietet ausdrücklich Kinderehen und verlangt die Umsetzung der nationalen Gesetze, die eine Eintragung aller Ehen vorsehen sowie Ehen von Minderjährigen unter 18 Jahren verbieten (African Union, 1990).
Die Bedeutung der MENA-Region
Die MENA-Region leidet an einer Reihe von sich überlagernder Faktoren, die ein erhöhtes Risiko für die Entstehung bzw. Verbreitung von Kinderehen darstellen. Die kürzlich aufgetretenen Konflikte und sozialen Unruhen in Syrien haben zu Tausenden von Flüchtlingen geführt, worunter sich einige der schutzbedürftigsten Erwachsenen und Kinder der Region befinden. Fast sechs Millionen syrische Flüchtlinge sind als Asylsuchende in der Region registriert (Diab, 2021).
Durch kulturell und religiös geprägte Ansichten, die den Frauen eine Minderwertigkeit gegenüber den Männern unterstellen, werden immer mehr Mädchen in Kinderehen gedrängt. Ein in der ganzen Region vorherrschender niedriger Bildungsstand verschärft die Situation zusätzlich. Anhand der folgenden Fallbeispiele können einige der Herausforderungen, die junge Mädchen zu unerwünschten Ehen zwingen, näher skizziert werden.
Ägypten
In Ägypten sind 2 % der verheirateten Mädchen noch unter 15 Jahre und 17 % unter 18 Jahre alt (UNICEF, 2021). Das aus dem Jahr 2008 stammende ägyptische Kindergesetz (Egyptian Child Law) stellt Kinderehen nicht unter Strafe, obwohl das Mindestalter für Ehen dort auf 18 Jahre heraufgesetzt wurde (UNICEF, 2021). Dieser paradoxe Zustand sorgt dafür, dass Kinderehen weiterhin straffrei bleiben.
Eine hohe Zahl an finanziell schwachen Gemeinden, ein geringer Bildungsstand und die häufige Durchführung schädlicher kultureller Praktiken, wie z.B. weibliche Genitalverstümmelungen, erhöhen das Risiko, Opfer von Kinderehen zu werden (UNICEF, 2021). Die durch Menschenhandel und eine wachsende regionale Flüchtlingskrise erzwungene Migration führt zu einer steigenden Zahl schutzbedürftiger Kinder (UNICEF, 2021). Jüngste Hinweise legen nahe, dass unter den Vertriebenen vor allem syrische Mädchen von Kinderehen betroffen sind (UNICEF, 2021).
Um sich diesen Herausforderungen zu stellen, entwickelte Ägypten 2014 einen Nationalen Strategieplan (National Strategic Plan, NSP) zur Verhinderung von Kinderehen. Der Plan zielte darauf ab, das Phänomen der Kinderehen innerhalb von fünf Jahren um 50 % zu senken (UNICEF, 2021). Der Nationale Rat für Kinder und Mütter (National Council for Childhood and Motherhood, NCCM) unterstützte dieses Vorhaben durch die Einrichtung von Berichtsmechanismen, zahlreicher Beratungsstellen sowie anderer Hilfsangebote für Frauen und Kinder (UNICEF, 2021).
Jordanien
In Jordanien sind 1 % der verheirateten Mädchen noch unter 15 Jahre und 10 % unter 18 Jahre alt (UNICEF, 2021). Berichten zufolge ist hier, ähnlich wie in Ägypten, die Zahl der Kinderehen aufgrund des Zustroms syrischer Flüchtlinge drastisch gestiegen, wobei 80 % dieser Flüchtlinge in größter Armut leben und auf humanitäre Hilfe angewiesen sind (Diab, 2021).
Neueste Zahlen belegen einen dreifachen Anstieg an Kinderehen in Folge des Syrienkonflikts und der damit einhergehenden Flüchtlingsmigration (Diab, 2021). An den meisten Kinderehen im Land sind syrische Mädchen beteiligt, von denen viele häufig keine Bürgerrechte besitzen und keinen Zugang zu notwendigen Sozialdiensten haben (DIAB, 2021).
Neben der Flüchtlingskrise gibt es außerdem ein tief in der Kultur verankertes Bestreben, das sog. „sutra“ zu vermeiden – ein aus dem Arabischen stammendes Wort, welches für die Bedeutung von Sicherheit und Schutz vor Notlagen steht. Dieses Bestreben wird von zahlreichen Jordaniern verschiedenster Glaubensansichten geteilt (UNICEF, 2021) und führt dazu, dass Familien die Kinderehe als Möglichkeit sehen, den schutzbedürftigen Mädchen Stabilität und Sicherheit zu bieten. Obwohl das Mindestalter für Ehen kürzlich auf 18 Jahre angehoben wurde, sind rechtlich gesehen Ausnahmen möglich, bei denen Mädchen – entgegen den internationalen Normen und Standards – bereits mit 16 Jahren verheiratet werden dürfen (Equality Now, 2021).
Libanon
Im Libanon sind 1 % der verheirateten Mädchen noch unter 15 Jahre und 6 % unter 18 Jahre alt (UNICEF, 2021). Der Syrienkonflikt hat hier ebenfalls zu einem starken Anstieg an Flüchtlingen geführt, die auf der Suche nach Schutz und Sicherheit in den Libanon gereist sind. Das Land beherbergt über eine Million syrischer Flüchtlinge (Diab, 2021).
Unstimmigkeiten bei der Flüchtlingsregistrierung führen dazu, dass immer mehr Kinder der Gefahr von Missbrauch ausgesetzt sind – insbesondere aufgrund fehlender Gesetze zum Verbot von Kinderehen im Libanon (Diab). Aufgrund des fehlenden rechtlichen Rahmens ist die Zahl der Kinderehen – die es in Syrien bereits vor dem Konflikt gab – im Libanon drastisch gestiegen.
Marokko
In Marokko sind 1 % der verheirateten Mädchen noch unter 15 Jahre und 14 % unter 18 Jahre alt (UNICEF, 2021). Marokko steht vor einer Reihe von Herausforderungen, die – anders als in Ägypten, im Libanon und in Jordanien – weniger mit Zwangsmigration zu tun haben. Das marokkanische Justizministerium registrierte im Jahr 2018 mehr als 25.000 Fälle von Kinderehen, wobei solche Statistiken wahrscheinlich nicht das wahre Ausmaß der Kinderehen in Marokko abbilden dürften (UNICEF, 2021).
Zu diesen Kinderehen kam es trotz des existierenden marokkanischen Familienrechts, Moudawana, welches die Rechte der Frauen um eine Anhebung des Mindestalters für Ehen von 15 auf 18 Jahren erweiterte (UNICEF, 2021). Allerdings erlaubte auch dieses Gesetz – genau wie jenes in Jordanien – Ausnahmen von den Altersanforderungen in Form von Ermessensspielräumen, wodurch die Wirksamkeit der gesetzlichen Bestimmungen praktisch zunichte gemacht wurde.
Die Auswirkungen von COVID-19
Global gesehen hat COVID-19 die Lebensumstände der Schwächsten unserer Weltbevölkerung verschlechtert. Schul- und Einrichtungsschließungen führten bei den von Armut betroffenen Gemeinden in der MENA-Region zu einer noch stärkeren gesellschaftlichen Isolation (UNICEF, 2021). Anweisungen, zuhause zu bleiben und weitere Lockdown-Maßnahmen hatten eine zunehmende geschlechtsspezifische Gewalt sowie einen Ausschluss schutzbedürftiger Frauen und Mädchen vor Unterstützungsmechanismen zur Folge (UNICEF, 2021). Angesichts der weitreichenden Auswirkungen von COVID-19 rief die Generalversammlung der Vereinten Nationen (United Nations General Assembly, UNGA) in ihrer vierten Resolution zum Thema „Kindes-, Früh- und Zwangsehe“ zu einem entschlosseneren Handeln im Kampf gegen Kinderehen auf.
Die in der Region lebenden Flüchtlingspopulationen leiden besonders unter einer pandemiebedingten Armut und einem fehlenden Zugang zu sozialen Dienstleistungen, wodurch insbesondere junge Migrantinnen in eine prekäre Lage versetzt werden (Diab, 2021). Es gibt Anzeichen dafür, dass Migrantenfamilien aufgrund der sich verschärfenden wirtschaftlichen Not zunehmend dazu getrieben werden, ihre Töchter zu verheiraten, um der Armut zu entkommen.
Während die in der Region eingeführten Reisebeschränkungen augenscheinlich zu einer Verlangsamung der Migrationsströme geführt haben, sehen sich die vor Ort befindlichen Flüchtlinge mit einer steigenden Arbeitslosigkeit und einem zunehmenden Gefühl der Verzweiflung konfrontiert (UNICEF, 2021). In Jordanien erhobene Daten zeigen, dass es – trotz verstärkter Reisebeschränkungen – zwischen 2019 und 2020 einen Anstieg der Prävalenz von Kinderehen gab (UNICEF, 2021).
Wege in die Zukunft
Laufende UNICEF-Initiativen in Jordanien und in Marokko arbeiten daran, die sozialen Normen in Flüchtlingscamps neu zu gestalten, und setzen sich zudem für eine Gesetzesreform in der gesamten Region ein (UNICEF, 2021). Diese Maßnahmen haben dazu beigetragen, diverse Lösungswege für einen künftigen gesellschaftlichen Fortschritt aufzuzeigen (UNICEF, 2021):
- Wirtschaft – die Maßnahmen sollten der Schaffung von alternativen Erwerbsquellen und wirtschaftlichen Chancen Priorität einräumen, um die Armut und damit einen der Hauptanreize für Kinderheirat zu beseitigen.
- Bildung – Kinder ohne Zugang zu Bildung haben ein erhöhtes Risiko, in eine Kinderehe und damit verbundene Teenagerschwangerschaft zu geraten.
- Beteiligungsorientierte Lösungen – durch eine stärkere Teilhabe der Gemeinschaft beim Thema „Kinderehe“ können die Gemeinden Mädchen überall dort besser vor Kinderehen schützen, wo gesamtgesellschaftliche Lösungsmöglichkeiten nicht umsetzbar sind.
- Änderungen bei der Exekutive – Mithilfe von Lobbyarbeit sollen im Bedarfsfall Änderungen bei der Gesetzgebung sowie politische Entscheidungsfindungen vorangetrieben werden. Angemessene rechtliche Rahmenbedingungen stellen eine notwendige Voraussetzung für die Beseitigung von Kinderehen dar.
Wir von Humanium verurteilen ein solches Verhalten auf das Schärfste. Durch unsere Projekte wie z.B. jenes in Indien, arbeiten wir aktiv daran, Mädchen wieder zurück in die öffentlichen Schulen zu bringen und dadurch letztendlich mithilfe von Bildung eine Welt zu schaffen, in der die Rechte der Mädchen respektiert, geschützt und erfüllt werden. Wenn Sie dazu beitragen möchten, die Welt für Mädchen ein Stück besser zu machen, können Sie gerne Mitglied werden, die Patenschaft für ein Kind übernehmen oder uns mithilfe einer Spende unterstützen.
Geschrieben von Vanessa Cezarita Cordeiro
Übersetzt von Melanie Dauphin
Korektur gelesen von Hettie M-J