Diskussionen um Norwegens Barnevernet: Steht das Kindeswohl im Mittelpunkt?

Posted on Posted in Armut, Ausbeutung, Freiheit, Kinderrechte, Menschenrechte

Der norwegische Kinderschutzdienst, gemeinhin als „Barnevernet“ bekannt, ist seit über einem Jahrzehnt wegen seiner Praxis, Kinder ihren Eltern wegzunehmen, stark umstritten. Diese gängige Praxis, die von der internationalen Gemeinschaft heftig kritisiert wird, ist nicht auf eine bestimmte Gruppe beschränkt, da sie oft auch die schwächsten Mitglieder der norwegischen Gesellschaft, wie alleinerziehende Mütter und Einwanderer, betrifft. Darüber hinaus zeigen beunruhigende Daten, dass Ende 2016 sage und schreibe 15.820 Kinder und Jugendliche durch den Barnevernet-Dienst außerhalb ihres Zuhauses untergebracht wurden (Skanland H. M. 2018).

Was ist Barnevernet und wie funktioniert es?

„Barnevernet“ ist das norwegische Wort für „Kinderschutz„. Es bezieht sich im Wesentlichen auf die norwegischen Kinderschutzdienste, deren Aufgabe es ist, Kindern, die sich in einer verletzlichen oder gefährdeten Situation befinden, Betreuung, Unterstützung und Schutz zu bieten. Die Behörde wurde 1992 gegründet und wird von der Regierung finanziell großzügig unterstützt. Sie hat in jeder norwegischen Gemeinde Zweigstellen und verfolgt einen wohlfahrtsorientierten Ansatz, bei dem das Kind im Mittelpunkt steht, und der auf den Grundsätzen der UN-Kinderrechtskonvention basiert (Skivenes M, 2023).

Der Dienst sollte das Wohlergehen und die Rechte der Kinder in gefährdeten Situationen in den Vordergrund stellen und in erster Linie darauf abzielen, Familien zu unterstützen, Probleme frühzeitig vorzubeugen und für eine angemessene Betreuung zu sorgen, um die Sicherheit und Entwicklung der Kinder zu gewährleisten. So ist das norwegische Barnevernet auch befugt, ein Kind den Eltern wegzunehmen, wenn der Verdacht besteht, dass das Kind leidet (Christopoulou D, 2018).

Obwohl Norwegen eines der wenigen Länder ist, die die Kinderrechtskonvention in ihr nationales Recht aufgenommen haben, scheint sich das Land von seinem kinderfreundlichen Ansatz zu entfernen (Skivenes M, 2023). Der norwegische Kinderschutzdienst zeichnet sich heute vor allem dadurch aus, dass er Kinder häufig unter Anwendung von Zwang von ihren Eltern trennt, und wendet diese Praxis mehr als jedes andere Land an.

Statistiken zeigen, dass von 1.000 Kindern, die in Pflegefamilien untergebracht sind, etwa 10,1 % der Kinder weggenommen werden, und etwa 71 % davon geschieht ohne die Zustimmung ihrer biologischen Eltern. Im Vergleich dazu liegen die Raten in Deutschland und Schweden mit nur 9 % bzw. 10 % und 8,2 % bzw. 26 % deutlich niedriger (Bennett S, 2016).

Herausforderungen und Kontroversen rund um Barnevernet

Norwegens integratives und wohlwollendes Sozialsystem, das grundlegende Dienstleistungen wie Gesundheitsversorgung und Bildung bereitstellt, hat im Laufe der Jahre zur wachsenden kulturellen Vielfalt des Landes beigetragen. Folglich rührt die Kritik am Kinderschutzsystem von zwei Hauptproblemen her: zum einen fehlen relevante Bewertungen und zum anderen werden in den Fällen, in denen es um „Kindesentzug“ geht, kulturelle Unterschiede nicht berücksichtigt (Apari F. S, 2022).

Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern der Welt hat Norwegen eine entschiedene Haltung gegen körperliche Züchtigung eingenommen und sie für illegal erklärt. Einwanderer in Norwegen wissen eventuell nichts von diesem Gesetz, aber es ist wichtig, dass sie die rechtlichen Folgen verstehen.

Die körperliche Züchtigung eines Kindes kann schwerwiegende Folgen haben, wie z. B. eine Untersuchung durch einen Sozialarbeiter, die durch einen anonymen Hinweis auf Kindesmissbrauch ausgelöst wird. In einigen Fällen kann es sogar dazu führen, dass die Kinder ihren Familien ohne Vorwarnung weggenommen werden, was einige als eine harte Maßnahme ansehen könnten (Christopoulou D, 2018).

Dementsprechend wird Barnevernet oft beschuldigt, Kinder schnell ihren Familien wegzunehmen, wobei dies besonders Alleinerziehende und Flüchtlinge betrifft. Die Agentur zwingt Eltern angeblich dazu, ihre Kinder freiwillig wegzugeben, was dazu führt, dass die Eltern in den meisten Fällen ihre Kinder nicht zurückbekommen.

Die Behörde wird auch dafür kritisiert, dass sie sich nicht vorrangig um die Zusammenführung von Kindern mit ihren leiblichen Eltern kümmert und die Kinder oft in Pflegefamilien unterbringt bis sie erwachsen sind. Darüber hinaus sehen sich Eltern, die Barnevernet öffentlich kritisieren oder ihre Geschichten online teilen, häufig mit Vergeltungsmaßnahmen konfrontiert, einschließlich der Androhung, dass sie ihre Kinder nie wiedersehen werden (Bennett S, 2016).

Untersuchung der (Fehl-)Praktiken von Barnevernet

BBC-Berichten aus dem Jahr 2018 zufolge gab Barnevernet an, dass die meisten Kinder ihren Eltern aufgrund „mangelnder Erziehungsfähigkeiten“ weggenommen wurden (Firstpost, 2023). In jüngster Zeit haben aufsehenerregende Fälle für Schlagzeilen gesorgt und den besorgniserregenden Trend beleuchtet. Diese Vorfälle haben kritische Mängel im System aufgedeckt, mit tragischen Folgen wie der herzzerreißende Fall der Palästinenserin Shatha Al-Barghouti zeigt, die ihr Leben durch einen angeblichen Selbstmord verlor (Euro-Med Human Rights Monitor, 2019).

Im Jahr 2016 nahm die Kinderschutzbehörde zwei Kinder aus der Obhut einer norwegischen Mutter, nachdem diese sie um Hilfe gebeten hatte, um nur ihre sechs Monate alte Tochter unter ihre Vormundschaft zu stellen. Beide Kinder wurden in Pflegefamilien untergebracht, und tragischerweise wurde das ältere Kind Opfer eines sexuellen Übergriffs. Die Mutter erstattete Anzeige bei der Polizei und bei Barnevernet, aber sie klärten den Vorfall nicht auf und gaben auch die Kinder nicht an die Mutter zurück. Stattdessen wurde die Mutter mit einer saftigen Geldstrafe in Höhe von 47.000 Dollar und 10 Monaten Gefängnis bestraft (Daily Sabah, 2016).

Eines Tages nahm das Sozialamt auch Shatha und zwei ihrer Brüder von der Schule, da es Bedenken gab, wie sie von ihren Eltern behandelt wurden. Die Familie durfte ihre Kinder nur noch alle sechs Monate unter strenger Aufsicht besuchen, und sie durften nicht in ihrer Muttersprache mit ihnen sprechen.

Diese schwierigen Umstände beeinträchtigten das psychische Wohlergehen der Kinder, und eines von ihnen versuchte sogar, während eines Besuchs zu fliehen. Leider wurde Shatha, kurz bevor sie im Alter von 17 Jahren zu ihrer Familie hätte zurückkehren dürfen, unter ungeklärten Umständen tot in ihrem Zimmer aufgefunden (Rimawi E, 2019).

Im Jahr 2018 geriet Barnevernet erneut in einen Skandal wegen eines 56-jährigen Psychiaters, der verurteilt wurde, da er Bildern von Kindesmissbrauch heruntergeladen hatte. In diesem grausamen Fall hatte der verurteilte Psychiater zugegeben, fast 200.000 Bilder und mehr als 12.000 Videos heruntergeladen zu haben, die den sexuellen Missbrauch und die Ausbeutung von Kindern zeigten.

Einige dieser Bilder zeigten Säuglinge, die von erwachsenen Männern vergewaltigt wurden. Über einen Zeitraum von vier Jahren war derselbe Psychiater als Sachverständiger tätig, der zu den Eltern nach Hause ging und Empfehlungen aussprach, welche Kinder in die Betreuung gegeben werden sollten (BBC, 2018).

Scharfe Kritik an Barnevernet aufgrund der Verletzung von Kinderrechten

Die alarmierenden Fälle sind schwer zu ignorieren. Das norwegische Kinderschutzsystem wurde von verschiedenen Organisationen und Experten kritisiert, darunter das Norwegische Institut für Menschenrechte (NIM), von dem es als das „schlechteste seiner Art“ bezeichnet wurde.

Sowohl der Ombudsmann für Kinder als auch die norwegische Aufsichtsbehörde und das Nationale Rechnungsprüfungsamt haben ihre Bedenken bezüglich schwerwiegender Versäumnisse bei der Umsetzung des Kinderschutzgesetzes geäußert. In der Praxis werden Familien gewaltsam getrennt und Kinder werden schließlich von anderen Familien adoptiert, obwohl es Ziel des Gesetzes ist, mit den betroffenen Familien zusammenzuarbeiten und sie zu unterstützen (DCT, n.d.).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) unterstützt die Verletzung der Kinderrechte durch Barnevernet ebenfalls nicht. Er kritisierte, dass Barnevernet keine Rechtfertigung hat, Kinder ihren Eltern wegzunehmen und dass Barnevernet die Anforderungen für Familienzusammenführungen nicht erfüllt (Skivenes M, 2023). Im Jahr 2021 fällte der Gerichtshof Urteile gegen Norwegen, von denen sechs das Land für schuldig befanden, Menschenrechte in Kinderschutzfällen zu verletzen. Von den insgesamt 65 EGMR-Urteilen gegen Norwegen führten 43 zu Verurteilungen (Malinowski H, 2023).

Im Jahr 2023 wurde ein indischer Film veröffentlicht, der die Kämpfe einer eingewanderten Mutter beschreibt, deren Kinder von den Behörden ohne konkreten Grund weggenommen wurden. In dem Film werden die Bedenken gegenüber dem norwegischen Kinderschutzdienst und die Notwendigkeit einer größeren Transparenz und Rechenschaftspflicht bei seinen Entscheidungen hervorgehoben. Indem er dieses Thema auf die internationale Bühne bringt, hofft der Film, eine Diskussion über die Rechte von Eltern und Kindern anzustoßen und positive Veränderungen in der Kinderschutzpraxis des Landes zu bewirken (Hasan S, 2023).

Die Wahrung der Kinderrechte in Norwegen

Bei der Behandlung von Themen im Zusammenhang mit Kinderschutz und Fürsorgesystemen wie Barnevernet ist es sehr wichtig, die Sache verantwortungsbewusst anzugehen und die Menschenrechte und internationalen Normen zu berücksichtigen. Internationale Menschenrechtsorganisationen sollten die Kinderschutzpraktiken in Norwegen überwachen, untersuchen und den Dialog mit den norwegischen Behörden vorantreiben. Diplomatische Kanäle, Petitionen und offene Briefe können genutzt werden, um diese Botschaften zu vermitteln und auf Reformen zu drängen.

Wir von Humanium setzen uns für die Rechte der Kinder ein und sind der Überzeugung, dass jedes Kind unter anderem eine Familie, ein sicheres Zuhause, das Recht auf Schutz und Zugang zu Bildung verdient. Wir sind zutiefst besorgt über die beunruhigenden Fälle im Zusammenhang mit Kinderschutz, wie z. B. bei Barnevernet in Norwegen.

Eine Möglichkeit, wie wir aktiv etwas bewirken können, ist die weltweite Sensibilisierung für die Herausforderungen, mit denen Kinder und Familien konfrontiert sind, die mit Kinderschutzsystemen zu tun haben. Wir glauben, dass jedes Kind ein sicheres und behütetes Umfeld verdient, in dem ihm kein Leid und keine Ungerechtigkeit droht. Sie können sich uns anschließen und etwas bewirken, indem Sie spenden, eine Patenschaft für ein Kind übernehmen oder ehrenamtlich mit uns zusammenarbeiten.

Geschrieben von Lidija Misic
Übersetzt von Elke Schöpf
Korrektur gelesen von Marie Podewski

Bibliographie:

Apari Firdevs Saader (2022), Norway’s child protection body under heavy criticism. Retrieved from Anadolu Agency at https://www.aa.com.tr/en/europe/norways-child-protection-body-under-heavy-criticism/2595620. Accessed on July 30, 2023.

BBC (2018), Norway backs down in child protection scandal. Retrieved from BBC at https://www.bbc.com/news/world-europe-45637040. Accessed on July 30, 2023.

Bennett Steven (2016), Secrets and lies: Inside Barnevernet. Retrieved from Barnefjern at http://www.barnefjern.org/secrets-and-lies-inside-barnevernet/. Accessed on July 30, 2023.

Christopoulou Danai (2018), How Norway’s Child Welfare Service Is Creating World-Wide Controversy. Retrieved at Culture Trip at https://theculturetrip.com/europe/norway/articles/how-norways-child-welfare-service-is-creating-world-wide-controversy/. Accessed on July 30, 2023.

Daily Sabah (2016), Norwegian mother cries for help after 6-year-old daughter sexually assaulted in foster care. Retrieved from Daily Sabah at https://www.dailysabah.com/europe/2016/12/01/norwegian-mother-cries-for-help-after-6-year-old-daughter-sexually-assaulted-in-foster-care. Accessed on July 30, 2023.

DCT – Democracy Centre For Transparency (n.d.), Human rights violations in Norway. Retrieved from DCT at https://dctransparency.com/human-rights-violations-in-norway/. Accessed on July 30, 2023.

Euro-Med Human Rights Monitor (2019), Norway Should Immediately Investigate the Mysterious Death of Palestinian Shatha Al-Barghouti. Retrieved from Euro-Med Human Rights Monitor at https://euromedmonitor.org/en/article/3075/Norway-Should-Immediately-Investigate-the-Mysterious-Death-of-Palestinian-Shatha-Al-Barghouti. Accessed on July 30, 2023.

Firstpost (2023), What is Barnevernet, Norway’s controversial Child Welfare Services in spotlight after Bollywood film? Retrieved from Firstpost at https://www.firstpost.com/explainers/what-is-barnevernet-norways-controversial-child-welfare-services-in-spotlight-after-bollywood-film-12311062.html. Accessed on July 30, 2023.

Hasan Saad (2023), Mrs Chatterjee vs Norway: The real story behind an Indian mother’s fight. Retrieved from TRT World at https://www.trtworld.com/magazine/mrs-chatterjee-vs-norway-the-real-story-behind-an-indian-mother-s-fight-66230. Accessed on July 30, 2023.

Malinowski Henryk (2023), Barnevernet – a troublesome side of the Norwegian state. Retrieved from TVP World at https://tvpworld.com/68748841/barnevernet-a-troublesome-side-of-the-norwegian-state. Accessed on July 2023.

Rimawi Ehab (2019), Who killed Shatha Barghouti? Retrieved from Wafa Agency at https://english.wafa.ps/page.aspx?id=e3Jyvwa111393171120ae3Jyvw. Accessed on July 30, 2023.

Skanland Haslev Marianne (2018), Statistics and generalisations about the CPS Barnevernet. Retrieved from Marianne Haslev Skånlands hjemmeside at http://www.mhskanland.net/page62/page534/page534.html. Accessed on July 30, 2023.

Skivenes Marit (2023), Wrong direction for the Norwegian child protection? Retrieved from Centre for Research on Discretion and Paternalism at https://discretion.uib.no/concerns-about-changes-in-norwegian-child-protection/. Accessed on July 30, 2023.