Unter Religion versteht man eine Reihe von Regeln, Ritualen, Glaubensgrundsätzen, Geschichten und Symbolen, die von einer Gesellschaft, einer Gruppe oder einer Person anerkannt werden und seit Jahrtausenden ein fester Bestandteil der menschlichen Geschichte sind. Forschungen haben ergeben, dass im Jahr 2050 voraussichtlich nur 13% der Weltbevölkerung keiner Religion angehören werden (Pew Research Center, 2022). Diese Studienerkenntnisse zeigen anschaulich, welch wichtige Rolle Religion bei der Gestaltung unserer Welt und unseres Lebens spielt. Sie hat daher direkte Auswirkungen auf Kinder.

Religionsfreiheit
Die Religionsfreiheit ist eines der fundamentalen Menschenrechte, wie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben, und jeder hat das Recht, seine Religion oder seinen Glauben frei zu wählen und/oder zu wechseln (United Nations, 1948). Kinder genießen diesbezüglich die gleichen Rechte und sind durch Artikel 14 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes geschützt: „Die Vertragsstaaten achten das Recht des Kindes auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“ (Council of Europe, 2000).
Auch die Afrikanische Charta über die Rechte und das Wohlergehen des Kindes von 1999 schützt in Artikel 9 die Religionsfreiheit für Kinder. Das Expertenkomittee für die Rechte und das Wohlergehen des Kindes kann Berichte verfassen, nachdem es in einem Land Untersuchungen durchgeführt hat.
In Europa – in den 46 Mitgliedsländern des Europarats – sind Gedanken- und Religionsfreiheit durch Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention sowohl für Kinder als auch für Erwachsene geschützt (Council of Europe, 2000). Wenn sich ein Land nicht daran hält, kann es vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sanktioniert werden.
Religionsfreiheit weltweit
Trotz der oben genannten Rechtsinstrumente, die Erwachsenen und Kindern völlige Religionsfreiheit garantieren, verhält es sich in der Realität oft anders, und Menschen in verschiedenen Ländern genießen oft nicht das gleiche Maß an Religionsfreiheit. Viele Länder auf der ganzen Welt bezeichnen sich als säkular, was bedeutet, dass der Staat von der Religion getrennt ist und seine Bürger in keiner Weise aufgrund ihrer religiösen Identität diskriminiert werden.
Forschungsergebnissen aus dem Jahr 2018 zufolge gibt es weltweit 96 vollständig säkulare Länder, in denen sich die Aufgaben und Zuständigkeiten von religiösen und staatlichen Einrichtungen nicht überschneiden (Sawe, 2018). In einigen Ländern wird Staatsatheismus praktiziert, z.B. in China, Kuba, Vietnam und Nordkorea (Cliteur and Ellian, 2020). Diese sind ehemals kommunistische Länder, in denen die Religionsausübung offiziell erlaubt ist, aber von den Regierungen streng kontrolliert wird.
Im Gegensatz dazu gibt es Länder mit einer Staatsreligion. In diesen Ländern existiert eine starke Verbindung zwischen Religion und Regierung. In der Regel ist die Religion in der Verfassung verankert und genießt einen hohen Status (Cliteur and Ellian, 2020). Zu diesen Ländern gehören zum Beispiel Jordanien, Griechenland und Kambodscha.
Schließlich gibt es noch einige Länder mit Theokratie als offizielle Staatsform, z.B. Vatikanstadt, Iran, Afghanistan, Saudi-Arabien, Mauretanien, und Jemen (World Population Review, n. d.). In diesen Ländern übt der Klerus die Macht im Namen Gottes aus und die Ausübung anderer Religionen ist offiziell verboten und/oder wird streng kontrolliert.
In einigen Ländern ist die Apostasie (der Wechsel der Religion) offiziell ein Verbrechen, das mit dem Tod bestraft wird. Einem Bericht aus dem Jahr 2021 zufolge wird Apostasie in mindestens zehn Ländern mit der Todesstrafe geahndet, nämlich in Afghanistan, Iran, Malaysia, auf den Malediven, Mauretanien, Nigeria, Katar, Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Jemen (National Secular Society, 2021). Die Unterscheidung zwischen den genannten Ländergruppen scheint ziemlich klar zu sein; in vielen Ländern herrscht jedoch Unklarheit, was die Beziehung zwischen der jeweiligen Regierung und der vorherrschenden Religion in einem Land betrifft.
Kinder sind die ersten Opfer von religiösen Konflikten
Kinder sind sehr abhängig von den Entscheidungen und Freiheiten, die den Erwachsenen in ihren Gemeinschaften zugestanden werden. Nur selten haben sie die Möglichkeit, ihre Meinung frei zu äußern, wenn es um die Annahme eines religiösen Glaubens geht. Daher sind sie in der Regel die Hauptleidtragenden verschiedener Krisen, die auf religiöse Konflikte zurückzuführen sind.
Die Nagorny Karabach-Krise aus dem Jahr 2023 ist ein Beispiel dafür, wie dieser jahrzehntealte Konflikt zwischen christlichen Armeniern und muslimischen Türken und Persern Kinder beeinflusst, die inmitten des Konflikts aufwachsen (BBC, 2023). Fast 30 % der Menschen, die im September 2023 aus dem Gebiet Nagorny Karabach nach Armenien flohen, sind Kinder (Reliefweb, 2023).
Viele dieser Kinder mussten schon 2020 die Schrecken desselben Konflikts erleben. Heute sind sie vertrieben, traumatisiert und benötigen dringend lebensnotwendige Dinge wie Nahrungsmittel, Unterkünfte und Hygieneartikel. Es ist ungewiss, ob und wann sie in ihre gewohnte Heimat zurückkehren und ihre Ausbildung beginnen oder fortsetzen können.
Ein weiteres düsteres Beispiel für religiöse Unruhen, die das Leben von Kindern auf den Kopf stellen, ist die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan im Jahr 2021. Das Land, das schon während eines jahrzehntelangen Konflikts enorm gelitten hat, steht 2023 am Rande einer Hungersnot.

Zwei Drittel der Bevölkerung leiden akut unter Hunger, viele Kinder sind unterernährt und haben keinen Zugang zu sauberem Wasser und grundlegender Hygiene (Stefan, 2023). Außerdem werden in Afghanistan Frauen und junge Mädchen durch das Taliban-Regime stark diskriminiert und dürfen keine weiterführenden Schulen und Universitäten besuchen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Mädchenschulen von 1996 bis 2001 geschlossen waren. Zwei Jahrzehnte später wurde ein ähnliches Verbot wieder in Kraft gesetzt, durch das Generationen von jungen Mädchen daran gehindert werden, ihr Recht auf Bildung wahrzunehmen (Fetrat, 2023).
Die Zugehörigkeit zu einer religiösen Minderheit in einem Land, das sich nicht als säkular definiert, ist eine große Herausforderung und Gefahr, vor allem für Kinder. So wurden beispielsweise 2009 in Pakistan sechs Christen, darunter ein Kind, bei lebendigem Leib verbrannt, als ihre Häuser von Hunderten von Anhängern einer verbotenen muslimischen Organisation im Osten Pakistans nach Spekulationen über Blasphemie in Brand gesteckt wurden (Quinn, 2009). Die Angriffe wiederholten sich im August 2023, diesmal ohne menschliche Opfer (Hussain, 2023).
Gefährliche kulturelle Praktiken werden als religiöse Regeln interpretiert
Jeder religiöse Fundamentalismus, sei er christlich, muslimisch, jüdisch oder Teil einer anderen Religion, gefährdet die Rechte von Kindern, insbesondere die von Mädchen. Bestimmte religiöse Auslegungen, die auf altüberlieferten Traditionen beruhen, können die Ursache von Gewalt gegenüber Kindern sein, darunter Genitalverstümmelung, Kinderehe, Infantizid und Verweigerung des Zugangs zu Bildung.
Genitalverstümmelung bei Frauen
Weibliche Genitalverstümmelung ist eine gefährliche Praxis, die häufig mit religiösen Überzeugungen gerechtfertigt wird. Sie gefährdet heute das Leben von mehr als 200 Millionen Mädchen und Frauen, die von Genitalverstümmelung betroffen sind, vor allem in 30 Ländern in Afrika, dem Nahen Osten und Asien (World Health Organization, 2023).
Dieser Eingriff wird meistens unter unhygienischen Bedingungen und an jungen Mädchen zwischen 0-15 Jahren durchgeführt. Dadurch werden nicht nur ihre grundlegenden Menschenrechte verletzt, sondern auch ihr Leben gefährdet (World Health Organization, 2023). Die Mehrheit der Bevölkerungsgruppen, die die weibliche Genitalbeschneidung praktizieren, gehören dem Islam an; diese Praxis ist aber auch in einigen christlichen und jüdischen Gemeinschaften vorzufinden. Erwähnt oder unterstützt wird dieser Brauch offiziell von keiner Religion.
Kinderehe
Mit Kinderehe ist die eheliche Verbindung zweier Kinder oder, häufiger noch, eines jungen Mädchens mit einem erwachsenen Mann, manchmal deutlich älter, gemeint. Diese Ehen werden hauptsächlich in Afrika (südlich der Sahara) und Südasien geschlossen, wo Werte wie Jungfräulichkeit und Fruchtbarkeit der Frau eine wichtige Rolle spielen (Petroni et al., 2017).
Den betroffenen Mädchen werden oft eine Reihe von Menschenrechten verweigert; dazu gehören u. a. Abbruch ihrer Ausbildung oder die Möglichkeit, diese zu beginnen, ernsthafte Gesundheitsrisiken durch frühe und mehrfache Schwangerschaften sowie sexuelle und häusliche Gewalt.
Die Tradition der Kinderehe ist tief in der Auslegung einiger religiöser Schriften verwurzelt und ist nicht auf eine Religion beschränkt. Aus diesem Grund könnten und sollten religiöse Gemeinschaften und deren Oberhäupter eine führende Rolle bei den weltweiten Bemühungen um die Beendigung der Praxis der Kinderehe übernehmen.
Infantizid
Unter Infantizid oder Kindstötung versteht man die vorsätzliche Verursachung des Todes eines unter einem Jahr alten Kindes. Es handelt sich um einen schwerwiegenden Verstoß gegen das Recht auf Leben von Kindern und steht in den meisten Fällen in Zusammenhang mit kulturellen und religiösen Überzeugungen.
In Senegal, einem sehr religiösen muslimischen Land, besteht zwischen Infantizid und Religion ein komplexes Zusammenspiel von kulturellen Überzeugungen und religiösen Traditionen. Abtreibung ist in Senegal gesetzlich streng verboten, außer in Fällen, in denen die Gesundheit der Mutter gefährdet ist. Ein Schwangerschaftsabbruch ist von der Religion streng verboten (Gaeste, 2018). Obwohl der Islam den Infantizid streng verurteilt, sehen viele Frauen, die ein Kind nicht behalten wollen oder können, im Infantizid die einzige Möglichkeit, mit den strengen kulturellen und religiösen Normen des Landes umzugehen.
Auch in Ghana, einem überwiegend christlichen Land, ist Infantizid ein ernstes Problem. Obwohl die Religion dies strikt verbietet, gibt es dort Praktiken, die in vorchristlichen und animistischen Traditionen verwurzelt sind und sich erhalten haben.
Einige Gemeinschaften in Ghana sind dafür bekannt, dass sie aus Angst vor bösartigen Geistern Kinder töten (Denham et al., 2010). Dadurch wird deutlich, wie regionale Unterschiede in der religiösen Auslegung und Vermischung mit indigenen Glaubensvorstellungen das Fortbestehen schlimmer Praktiken wie Infantizid fördern.
Der Einfluss von Religion auf dem Weg zu einer besseren Welt für Kinder
Religion ist für viele Gesellschaften sehr wichtig, denn sie ermöglicht es Kindern, etwas über Moralvorstellungen zu lernen und Antworten auf Fragen zu Leben und Tod, zu Beziehungen zwischen Menschen und zu ihrem Platz in der Welt sowie zum Verständnis von Gut und Böse zu finden. Alle großen Weltreligionen beruhen auf den Idealen von Weisheit, Solidarität und Gerechtigkeit. Dieses Wissen wird in einem idealen und sicheren Raum von Familie, Schule und Gesellschaft an das Kind weitergegeben, damit es nach diesen Werten und Ideen leben kann.
Religiöse Oberhäupter könnten und sollten eine zentrale Rolle bei der Verbesserung der Einhaltung der Rechte des Kindes spielen. Als einflussreiche und angesehene Mitglieder ihrer Gemeinschaften können sie Maßnahmen und Projekte zum Schutz von Kindern fördern. Sie verfügen auch über den notwendigen Einfluss, um gefährlichen Praktiken, Bräuchen, Ursachen von Gewalt und Diskriminierung gegen Kinder entgegenzuwirken.

In Afrika südlich der Sahara, vor allem in Äthiopien, haben sich beispielsweise christliche und muslimische Religionsanführer gemeinsam an einer Kampagne für die Bekämpfung von HIV/AIDS beteiligt (Murungi et al., 2022). In Afghanistan kritisierten religiöse Würdenträger das Verbot von Bildung für Frauen, obwohl sie von der Taliban-Regierung gewarnt worden waren, sich nicht gegen die Entscheidung aufzulehnen, Mädchen den Zugang zur Sekundar- und Hochschulbildung zu verwehren.
Diese Beispiele sollten religiösen Gemeinschaften und deren Anführern auf der ganzen Welt als Vorbild dienen, welch einflussreiche Rolle sie bei der Gestaltung einer friedlichen und guten Zukunft für Kinder spielen können.
Verfasst von Zeljka Mazinjanin
Interne Korrektur von Aditi Partha
Übersetzung von Helga Burgat
Korrektorat von Katharina Haas
Letztes Update am 6. November 2023
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