Kinder in Liberia

Die Verwirklichung der Kinderrechte in Liberia

Liberia hat einen langen Weg vor sich, um die effektive Anerkennung und Umsetzung der Kinderrechte zu gewährleisten. Die wichtige Rolle traditioneller und kultureller Praktiken in der liberianischen Gesellschaft und das sehr junge Alter der Bevölkerung (41% unter 15 Jahren, Medianalter 19,1) schafft erhebliche Herausforderungen für Kinder und Kinderrechte in Liberia.

Kinder sind mit wesentlichen Beeinträchtigungen konfrontiert bezüglich des Zugangs zu guter Ausbildung und sanitären Einrichtungen und auch durch kulturelle Praktiken wie Kinderehen, Kinderarbeit, Kindesmissbrauch, Beschuldigung der Hexerei und rituelle Tötungen sowie gewaltsame Initiationsriten wie weibliche Genitalverstümmelung.

Index der Realisierung von Kinderrechten: 4,73 / 10
Schwarz Stufe:
sehr Schwierige Situatio

Bevölkerung: 5,05 Millionen
Bev. 0-14 Jahren: 40,7 %

Lebenserwartung: 63,7 Jahre
Kindersterblichkeit: 84,6 ‰

Liberia auf einen Blick

Die Republik Liberia ist ein Land südlich der Sahara in Westafrika mit Küstenlinie am Atlantischen Ozean. Die Hauptstadt ist Monrovia. Das Land grenzt im Norden an Guinea, im Osten an die Elfenbeinküste und im Westen an Sierra Leone. Die offizielle Sprache der Republik ist Englisch. Es werden jedoch über 30 indigene Sprachen im ganzen Land gesprochen.

Die liberianischen Bürgerkriege (1989-1996 und 1999-2003) zählen zu den gewalttätigsten Bürgerkonflikten in der Ära nach Erlangung der Unabhängigkeit in Afrika. Weitverbreitete und systematische Verstöße gegen die internationalen Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht, darunter der Einsatz von Kindersoldaten, Exekutionen im Schnellverfahren, sexuelle Gewalt und Folter, prägten diese Bürgerkriege. Abgesehen von diesen Gewalttaten verursachte der Krieg eine große wirtschaftliche Destabilisierung, die den Staat ohne Ressourcen und die meisten der verbliebenen Liberianer in Armut zurückließ.

Das Friedensabkommen von 2003 und der Rücktritt von Präsident Charles Taylor beendeten den Bürgerkrieg in Liberia, der rund eine Million Liberianer vertrieb und etwa 250.000 Menschen tötete, darunter auch Kinder. 2005 wurde Ellen Johnson Sirleaf nach einer zweijährigen Übergangsregierung zur liberianischen Präsidentin und damit zum ersten weiblichen Staatsoberhaupt eines afrikanischen Landes gewählt.

In dieser Nachkriegszeit baute die Präsidentin Sirleaf eine marktorientierte Wirtschaft wieder auf, die von natürlichen Ressourcen, externer Hilfe und ausländischen Direktinvestitionen abhängig ist. 2013 wurde Liberia vom Ebola-Virus heimgesucht, das drei Jahre lang anhielt, etwa 5.000 Liberianer tötete und einen weiteren wirtschaftlichen Niedergang verursachte. 2018 übernahm George Weah Sirleafs Position als derzeitiger Präsident von Liberia.

Status der Kinderrechte [1]

Liberia ist seit 1993 Mitgliedsstaat der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) und seit 2007 der Afrikanischen Charta für die Rechte und das Wohlergehen des Kindes. Liberia hat 2004 das Fakultativprotokoll zur KRK betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten und das Fakultativprotokoll zur KRK betreffend den Verkauf von Kindern, die Kinderprostitution und die Kinderpornografie unterzeichnet, diese Protokolle aber noch nicht ratifiziert. (CRC Committee, 2012, § 84). Trotz der Empfehlungen des KRK-Ausschusses ist es jedoch dem Fakultativprotokoll zur KRK betreffend ein Individualbeschwerdeverfahren  nicht beigetreten und sieht daher kein solches Verfahren nach der KRK vor.

Zwei wichtige Schritte zum Schutz der Rechte des Kindes wurden mit dem Bildungsreformgesetz vom 8. August 2011 und dem liberianischen Kindergesetz vom 4. Februar 2012 unternommen, die die KRK in das nationale Rechtssystem aufnehmen. Trotz dieser Schritte fehlt es im liberianischen Recht immer noch an Schutzbestimmungen in Bezug auf das Mindestalter für Eheschließung, die Adoption und die Jugendgerichtsbarkeit.

Trotz vieler positiver Entwicklungen zum Schutz des Kindes, wie dem Anti-Korruptionsgesetz 2008, dem Vergewaltigungsgesetz 2006, dem Gesetz zur Bekämpfung des Menschenhandels 2005 und der Entwicklung einer Unabhängigen Nationalen Menschenrechtskommission (Independent National Commission on Human Rights Act) 2005, steht die Durchsetzung in der Praxis vor zahlreichen Herausforderungen wie institutionelle Schwächen, Korruption, mangelnde Sorgfaltspflicht der Regierung und logistische und finanzielle Einschränkungen (OHCHR, 2016).

Auf die Bedürfnisse von Kindern eingehen

Recht auf Bildung

Frühkindliche Bildung (Early Childhood Education, ECE) dürfen keinem Kind verwehrt werden, und Grundschulbildung ist bis zur neunten Klasse kostenlos und verpflichtend (Education Reform Act, 2011). Dennoch haben viele Kinder keinen Zugang zu Grundschulbildung aufgrund von Schulgebühren und indirekten Kosten, inoffiziellen Aufnahmeprüfungen, der Entfernung zur Schule sowie Armut und ländliche Herkunft  UNESCO, 2020).

Infolgedessen liegt die Alphabetisierungsrate bei Jugendlichen in Liberia bei etwa 55% und die Einschulungsrate ist besonders niedrig (Grundschule: 45,5%; Junior High School: 21,1%; Senior High School: 26,3%; Universität: 6,8%) (Primson MS, 2018). Ein erster Schritt wurde 2018 unternommen, als die liberianische Regierung kostenlosen Unterricht für Studenten im Grundstudium einführte (Human Rights Council, 2020). Auch das überaltete Einschulungsverfahren (Ministry of Education, 2016), das die Abbrecherquoten erhöht (UNICEF, 2012) und der Einfluss von sozialem Status beeinträchtigen den Zugang zu qualitativer Bildung (Primson MS, 2018).

Das Fehlen von Lehrermanagement und nationalen Schulqualitätsstandards ist ein weiteres zentrales Thema, das den Zugang zu  qualitativer Bildung beeinträchtigt. Einerseits stellt die Regierung nur wenig Ressourcen für Bildung zur Verfügung. Der Aktionsrahmen für Bildung bis 2030 empfiehlt, mindestens rund 5% des BIP für Bildung bereitzustellen. Allerdings gab die liberianische Regierung 2017 nur 3,83% des BIP für Bildung aus.

Andererseits werden viele dieser Ressourcen durch die Beschäftigung von „Geister“-Lehrern und ungelernten Lehrern verschwendet (etwa ein Drittel des Lehrpersonals hat keine oder nur gefälschte  Qualifikationen). Besorgniserregend ist auch, dass in Schulen die körperliche Züchtigung als vertretbare Korrektur nach dem liberianischen Strafgesetzbuch und dem Kindergesetz 2011 immer noch als rechtmäßig angesehen wird (Artikel 5 (8) des Strafgesetzbuches 1976; Artikel 7 (7) des Kindergesetzes 2011) (UNESCO, 2020).  

Recht auf Gesundheit

Trotz Liberias Status als eines der wasserreichsten Länder der Welt haben etwa 90% der liberianischen Bevölkerung keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und sanitären Einrichtungen. Dieser fehlende Zugang zu den Lebensgrundlagen für Kinder führt zu hohen Raten von Durchfallerkrankungen, Mangelernährung bei Kindern und Infektionskrankheiten (UNICEF, n.d.). Der Mangel an WASH-Einrichtungen (Wasser-, Sanitär-, Gesundheitsversorgung, Hygiene- und Umweltinfrastruktur) erhöht auch die Abbrecherquote von Kindern in Bildungseinrichtungen, insbesondere bei Mädchen.

Der eingeschränkte Zugang zu sexual- und reproduktionsmedizinischen Diensten für Kinder und Jugendliche, einschließlich des fehlenden Zugangs zu Präventionsmaßnahmen und ‑mitteln, führt zu einer hohen Rate an Frühschwangerschaften bei Jugendlichen. Aufgrund des Mangels an Gesundheitsdiensten bleibt die Prävention der Mutter-Kind-Übertragung von HIV eine Herausforderung (Human Rights Council, 2020). Ungefähr 1% der Bevölkerung trägt das HIV/AIDS-Virus in sich, darunter etwa 4.000 Kinder unter 14 Jahren.

Aufgrund des fehlenden effektiven Zugangs zu und des generellen Verbots von Schwangerschaftsabbrüchen führt die Häufigkeit von unsicheren, illegalen Abtreibungen häufig zu Müttersterblichkeit. Dadurch bleiben Neugeborene ohne die nötige mütterliche Betreuung. Etwa 13.500 Kinder unter 5 Jahren sterben jedes Jahr an leicht vermeidbaren Krankheiten wie neonatale Komplikationen, Malaria, Lungenentzündung, Durchfall und Masern (UNICEF, 2019).

Eine weitere alarmierende Tatsache ist der gravierende Mangel an medizinischen Fachkräften in Liberia. Mit etwa 12 Gesundheitsfachkräften pro 10.000 Einwohner hat Liberia nur etwa die Hälfte der 23 Fachkräfte, die von der WHO empfohlen werden, um das Minimum an essentiellen Gesundheitsdiensten für Mütter und Kinder für die gesamte Bevölkerung zu gewährleisten (Front Public Health, 2019). Dieser Mangel verursacht eine wesentliche Ungleichheit beim effektiven Zugang zu Gesundheitsdiensten für Kinder aus wirtschaftlich benachteiligten Familien.

Recht auf Identität

Liberia hat eine der niedrigsten Raten der Geburtenregistrierung in ganz Westafrika. Nur 25% der Kinder unter 5 Jahren sind bei der Geburt registriert (UNICEF Liberia, 2020). Die Geburtenregistrierung ist entscheidend, um Kindern eine legale Identität und den Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und anderen grundlegenden Dienstleistungen zu ermöglichen.

Trotz der Bemühungen zur Steigerung der Geburtenregistrierung durch ein System in allen öffentlichen Gesundheitseinrichtungen und Dienstleistungszentren im ganzen Land, um die kostenlose Ausstellung einer nachträglichen Geburtsurkunde für die 0- bis 5-Jährigen in den Gesundheitszentren und für die 0- bis 12-Jährigen in Standesämtern für Geburtenregistrierung und Sterbeurkunde zu gewährleisten, bleibt die Rate der Geburtenregistrierung in Liberia niedrig, besonders in den ländlichen Gebieten.

Mit Unterstützung der französischen Regierung konnte die Zahl der Zentren für Geburtenregistrierung im Land von 15 im Jahr 2018 auf 32 Mitte 2020 erhöht werden. Dieses System von Geburtenregistrierungszentren deckt bis zu 98% von Liberia ab (UNICEF Liberia, 2020). Rund 5.000 Kinder unter 5 Jahren werden durch die Unterstützung der französischen Regierung registriert und erhalten ihre Geburtsurkunden.

Ein weiteres vorherrschendes Problem ist die Gesetzgebung der Staatsangehörigkeit, nämlich das Ausländer- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1973, das auf einer Mischung aus Staatsbürgerschaft durch jus soli (d.h. Staatsbürgerschaft nach Geburtsortprinzip) und jus sanguinis (d.h. Staatsbürgerschaft durch Abstammungsprinzip) basiert. Daher beschränken Kapitel 20 des Ausländer- und Staatsangehörigkeitsgesetz und Artikel 27 der liberianischen Verfassung die Staatsbürgerschaft durch Geburt auf ein Kind, das einer indigenen liberianischen Ethnie angehört oder davon abstammt (§ 20.1 a) Aliens and Nationality Law 1973).

Diese Gesetzgebung der Staatsangehörigkeit verhindert, dass Frauen die liberianische Staatsbürgerschaft an ihre Kinder weitergeben können, wenn diese von einer liberianischen Frau geboren werden, die mit einem nicht-liberianischen Mann außerhalb des Landes verheiratet ist (§ 20.1 b) Aliens and Nationality Law 1973). Dies verstößt nicht nur gegen die Rechte der Frau (Artikel 9 (2) CEDAW), die Rechte des Kindes (Artikel 7 CRC) und die bürgerlichen und politischen Rechte (Artikel 24 (1) ICCPR), sondern auch gegen die liberianische Verfassung (Artikel 28 Constitution of the Republic of Liberia).

Risikofaktoren – landesspezifische Herausforderungen

Armut

Etwa 64% der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze und die unterentwickelte Wirtschaft Liberias bedroht die Lebensgrundlage vieler Menschen. Der Mangel an finanziellen Mitteln liegt vielen Unzulänglichkeiten in Liberia zugrunde, wie z. B. dem fehlenden Zugang zu qualitativen Gesundheitsdiensten und angemessenen sanitären Einrichtungen, und verursacht einen unzureichenden Zugang zu qualitativer Bildung, da viele Kinder gezwungen sind, zu arbeiten (International Monetary Fund, 2021).

Kinderarmut verursacht Beeinträchtigungen in der wichtigsten Periode der geistigen, körperlichen und sozialen Entwicklung. Mangel an Nahrung, Gesundheitsversorgung, Bildung und Sicherheit sowie verschiedene Formen häuslicher Gewalt können irreparable Folgen haben. Diese Folgen führen zu einer generationenübergreifenden Übertragung von Armut, Straffälligkeit und zum möglichen Beitrag zu verschiedenen Formen von Suchtverhalten (International Monetary Fund, 2021).

Diskriminierung

Trotz der Aufnahme des Prinzips der Nicht-Diskriminierung in die liberianische Verfassung sind Kinder in Liberia mit verschiedenen Problemen im Zusammenhang mit Diskriminierung konfrontiert. Kinder mit Behinderungen werden oft stigmatisiert, verlassen, vernachlässigt und Risiken ausgesetzt, einschließlich Tod und/oder unmenschlicher und erniedrigender Behandlung (United States Department of State, 2018).

In Liberia herrscht eine weit verbreitete Stigmatisierung und de facto Diskriminierung von Kindern, die mit HIV/AIDS und psychosozialen Behinderungen leben, von Überlebenden der Ebola-Viruserkrankung und von Kindern mit Albinismus (Human Rights Committee, 2018). Abgesehen vom Fehlen einer umfassenden Definition der Diskriminierung von Frauen enthalten das Ausländer- und Staatsangehörigkeitsgesetz und die Verfassung diskriminierende Bestimmungen aufgrund des Geschlechts und der ethnischen Herkunft in Bezug auf den Erhalt des Rechts auf Staatsangehörigkeit und Einbürgerung (Human Rights Council, 2020).

Weitere besorgniserregende Themen sind die Kriminalisierung von einvernehmlich gleichgeschlechtlichen sexuellen Verhaltensweisen zwischen Erwachsenen, die Versuche, die entsprechenden Strafen zu erhöhen und gleichgeschlechtliche Ehen zu verbieten. Die soziale und gesetzliche Diskriminierung, der LGBTI-Personen, einschließlich Kinder, ausgesetzt sind, besteht in einem hohen Maß aus Stigmatisierung, de facto Diskriminierung bei der Wahrnehmung mehrerer Rechte und aus der vorherrschende Gewalt, die von staatlichen oder nicht-staatlichen Akteuren wegen sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität ausgeübt wird.

Dies wird zusätzlich durch das Fehlen effektiver Ermittlungen verschärft (Human Rights Council, 2020). All diese Formen der Diskriminierung führen zu einem fehlenden Zugang zu Bildung sowie zum Ausschluss dieser Kinder aus der Gesellschaft und tragen zur generationsübergreifenden Weitergabe von Armut bei.

Kinderarbeit

Kinderarbeit beraubt Kinder der Bildung und setzt sie einem hohen Risiko von Gesundheitsschäden aus. Dieser Bildungsentzug verstärkt den generationenübergreifenden Kreislauf der Armut (Lawyers without borders, 2018). Daten zeigen, dass etwa 15% der liberianischen Kinder Kinderarbeit ausgesetzt waren (UNICEF, 2019). Kinder werden gezwungen, als Straßenverkäufer, Bettler oder Hausangestellte und in den schlimmsten Formen der Kinderarbeit wie in der Gummifabrikation und dem Bergbau zu arbeiten.

Trotz einer Empfehlung des Menschenrechtsausschusses im Jahr 2018 und Bemühungen, die schlimmsten Formen der Kinderarbeit durch das Strafgesetz und das liberianische Kindergesetz zu bekämpfen, versäumt es die Regierung, einen nationalen Aktionsplan umzusetzen und die Bestimmungen über Zwangsarbeit im Strafgesetzbuch und im Kindergesetz durchzusetzen.

Sexueller Missbrauch von Kindern

Vergewaltigung ist das am zweithäufigsten gemeldete schwere Verbrechen in Liberia und ist zum Teil ein Erbe des 14-jährigen Bürgerkriegs (OHCHR, 2016). Während des Krieges wurden zwischen 61,4 und 77,4% der Frauen und Mädchen in Liberia vergewaltigt (OHCHR, 2016).

Die meisten Täter sind den Opfern bekannt, wie etwa Gemeindemitglieder, Verwandte oder Nachbarn. Etwa 80% der Vergewaltigungsopfer sind unter 18 Jahren, darunter auch Mädchen unter 5 Jahren (OHCHR, 2020). Trotz der Einführung des Vergewaltigungsgesetzes von 2005 als Ergänzung zum Strafgesetzbuch von 1976, und des Sondergerichts, Gericht E, bleibt die Verfolgung und Verurteilung von Vergewaltigungen gering (ca. 2%).

Hindernisse für die Verwirklichung von Gerechtigkeit sind institutionelle Schwächen, Korruption, mangelnde Sorgfalt der Regierung, logistische und finanzielle Beschränkungen, Einflussnahme durch traditionelle Akteure, kulturelle und patriarchalische Einstellungen sowie Geschlechterstereotypen.

Kinderheirat

Liberia gehört weltweit zu den 20 Ländern mit der höchsten Verbreitung von Kinderheirat. Der Einfluss der Geschlechterungleichheit auf Zwangs- und Kinderheirat zeigt sich darin, dass im Vergleich zu den 36% der Mädchen, die vor dem 18. Lebensjahr verheiratet werden (9% unter 15 Jahren), nur 5% der Jungen vor dem gleichen Alter verheiratet sind (UNICEF, 2019). Vorherrschende Gründe für Kinderheirat in Liberia sind Armut, Bildungsniveau, schädliche traditionelle Praktiken und das hohe Maß an Geschlechterungleichheit (Girls not brides, 2020).

Die innerstaatliche Gesetzgebung, Domestic Relations Law von 1973, legt das gesetzliche Heiratsalter für Mädchen auf 18 Jahre und für Jungen auf 21 Jahre fest. Im Jahr 2012 hat das liberianische Kindergesetz die Ausnahmen abgeschafft, die eine Heirat über 16 Jahren (unter 18 Jahren) mit elterlicher Einwilligung erlauben.

Diese Abschaffung wird durch das Fehlen der  Aufhebung des Abschnitts 2.2 des Domestic Relations Law of Liberia abgeschwächt, das eine solche Regelung erlaubt. Trotz dieser Bemühungen zur Abschaffung der Kinderheirat hat die fehlende Übereinstimmung von Gewohnheits- und Gesetzesrecht, massiven Aufklärungskampagnen und Zusammenarbeit mit lokalen und traditionellen Führern dazu geführt, dass die gängige Praxis der Früh- und Zwangsverheiratung vorherrscht (UNICEF, 2019).

Weibliche Genitalverstümmelung (FGM)

Weibliche Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation, FGM), auch bekannt als weibliche Beschneidung oder weibliche Zirkumzision, ist jede Prozedur, die eine teilweise oder vollständige Entfernung der äußeren Genitalien und/oder eine Verletzung der weiblichen Genitalorgane vornimmt, sei es aus kulturellen oder anderen nicht-therapeutischen Gründen (WHO, UNICEF, und UNFPA, 1997). Geheime Stammesgesellschaften, wie z.B. die Sande, und ihre traditionellen Führer und Gemeindeleiter üben diese schädliche kulturelle Praxis weiterhin in großem Umfang bei ihren Initiationsriten aus. In Liberia wurden etwa 40% der Frauen im Alter von 16-45 Jahren einer FGM unterzogen (Ministry of Health and Social Welfare, 2020).

Trotz des Verbots dieser kulturellen Praktik und Tradition für Mädchen unter 18 Jahren oder für nicht-einwilligende Frauen durch eine präsidiale Durchführungsverordnung im Jahr 2018 hat die liberianische Regierung die Gesetzgebung zum Verbot von FGM noch nicht umgesetzt (Human Rights Council, 2020). Ein eigenständiges Anti-FGM-Gesetz wurde zwar entworfen und zur Prüfung vorgelegt, aber es fehlt noch die Umsetzung in nationales Recht (Human Rights Council, 2020). Im Gegenteil, Bestimmungen, die FGM sanktionieren, wurden aus dem Gesetz gegen häusliche Gewalt entfernt, wodurch Mädchen und Frauen ernsthaft gefährdet sind.

Gewaltsame Initiation in die Gemeinschaft

Die meisten der gewaltsamen Initiationsrituale beruhen auf patriarchalischen Einstellungen und tief verwurzelten Stereotypen in der Gesellschaft und in der Familie. Die geheimen Stammesgesellschaften halten diese durch Initiation ins Erwachsensein aufrecht.

Ein entsprechendes Initiationsritual gibt es für Jungen und männliche Jugendliche. In den meisten Fällen beginnen die gewaltsamen Initiationen mit der Entführung des Jungen oder männlichen Jugendlichen. Die Initiationen dienen dazu, Nicht-Mitglieder in die traditionellen kulturellen Werte dieser Gesellschaften und in die Unbilden und Pflichten des Erwachsenseins einzuführen.

Die Geheimgesellschaften, wie z. B. die Poro-Gesellschaft, initiieren auch oft gewaltsam Nicht-Mitglieder, die sich nicht an die Regeln der Gesellschaften halten, wie z. B. durch Betreten von heiligem Boden oder die Störung von Gesellschaftsaktivitäten (OHCHR, 2015). Diese Praktiken müssen geheim gehalten werden, und Verstöße gegen diesen Gesellschaftskodex führen oft zu schweren Strafen wie Tötungen (OHCHR, 2015).

Trotz der gesetzlichen Verfolgung von Entführung und gewaltsamer Initiation als Straftat nach liberianischem Recht und der Verletzung zahlreicher Menschenrechte sind diese Initiationszeremonien immer noch weit verbreitet und die Regierung ist nicht in der Lage oder nicht willens, dieses Problem angemessen anzugehen (OHCHR, 2015). Zu den genannten Menschenrechtsverletzungen gehören das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, das Recht auf Bewegungsfreiheit, das Recht, nicht illegal oder willkürlich inhaftiert zu werden, und das Recht, nicht aufgrund der Religion oder der ethnischen Zugehörigkeit diskriminiert zu werden, sowie das Recht, nicht misshandelt zu werden, da die Initiationen oft starke Schmerzen und Leiden verursachen.

Hexerei

Der Hexerei beschuldigte Kinder werden gezwungen, ihr Fehlverhalten zu gestehen oder von einem Hexendoktor untersucht zu werden, wobei Methoden angewandt werden, die an sich schon als Misshandlung zu qualifizieren sind, wie z. B. ein Angelhaken im Hals des Opfers und eine heiße Machete auf seiner Haut. Diejenigen Kinder, die Hexerei gestehen oder als Hexer identifiziert werden, werden „reinigenden“ Ritualen unterzogen und bestraft.

Zu den Bestrafungen gehören der Entzug des Schulbesuchs, das Rasieren in der Öffentlichkeit und die Trennung von ihren Familien, um bei einem Hexendoktor oder „Propheten“ zu leben. Kinder, die der Hexerei beschuldigt werden, sind der Gefahr von körperlichem und sexuellem Missbrauch und Ausbeutung ausgesetzt, leben auf der Straße und erleben sowohl psychische als auch physische Traumata (OHCHR, 2015).

Jugendgerichtsbarkeit

Im September 2011 machte die Abteilung für Kinderjustiz im liberianischen Justizministerium einen Schritt nach vorn beim Aufbau eines Jugendrechtssystems (Juvenile Justice System). Trotz des gesetzlichen Auftrags, in jedem Bezirk ein Jugendgericht einzurichten, befindet sich das einzige Jugendgericht in der Region Montserrado. In den anderen 15 Verwaltungsregionen  fungieren Magistratsgerichte als Jugendgerichte.

Artikel 9 des liberianischen Kindergesetzes definiert die Jugendgerichtsbarkeit als ein System, das Straffälligkeit bekämpft, die Reintegration des Kindes in die Gesellschaft und seine konstruktive Rolle in der Gesellschaft fördert (Children’s Law, 2012). Die Regelung wird durch ihre eigenen Ausnahmen abgeschwächt. So erlaubt Artikel 9, Abschnitt 3.3 und 3.4 Freiheitsentzug und die Anwendung von körperlicher Gewalt, basierend auf einer subjektiven Interpretation der Begriffe „keine andere Möglichkeit, das Kind zu korrigieren“ und „nicht unzumutbar“ durch die meist ungeschulten Behörden (Mangel an Jugendgerichten).

Die kulturelle Wahrnehmung, dass Jugendliche für bestimmte Straftaten nicht zur Rechenschaft gezogen werden können, wird durch eine falsche Auslegung des Gesetzes verstärkt, wonach Jugendliche für Verbrechen wie Vergewaltigung nicht belangt werden können. (United Nations Mission Liberia, 2016). „Jugendliche, die sexuelle Gewaltverbrechen begangen haben, wurden von der Polizei mit einem mündlichen Verweis entlassen, aufgrund einer Kombination aus Missverständnis der Strafprozessordnung bei der Strafverfolgung und kulturellen Überzeugungen.“ (United Nations Mission Liberia, 2016).

Trotz der Zusagen, ein altersgerechtes Jugendrechtssystem, einschließlich Jugendhaftanstalten, einzurichten, befinden sich die Hafteinrichtungen und die Jugendhaftanstalten, sofern vorhanden, in inakzeptablen Zuständen, sind überbelegt und bieten unzureichende Verpflegung und unzureichende medizinische Versorgung (United States Department of State, 2018). Abgesehen davon werden in Bezirken mit kleineren Hafteinrichtungen Jugendliche oft in gesonderten Zellen im selben Zellenblock mit Erwachsenen interniert.

Geschrieben von Alexander Weihrauch

Übersetzt von Beate Dessewffy

Zuletzt aktualisiert am 8. März 2021

Quellenverzeichnis:

Lawyers without borders (January 2018), Liberia Child Labor Manual and Rapod Reference Cards, Country level engagement and assistance to reduce child labor II (Clear II) Project, retrieved from Lawyers without borders.

OHCHR (14 October 2016), UN report urges Liberia to act on rape, retrieved from ohchr.org.

CRC Committee (13 December 2012), CRC/C/LBR/CO/2-4, Concluding observations on the combined second to fourth periodic reports of Liberia, adopted by the Committee at its sixty-first session (17 September-5 October 2012).

UNICEF (2012), Liberia Country Study: Global Initiative on out of school children. Monrovia: UNICEF.

Ministry of Education – Republic of Liberia (2016) Getting to Best Education Sector Plan, 2017-2021, retrieved from globalpartnership.org.

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UNICEF (2019), Country data: Liberia, retrieved from UNICEF.

Front Public Health (2019), Delays in Achieving Maternal, Newborn, and Child Health Targets for 2021 and 2030 in Liberia, retrieved from ncbi.nlm.nih.gov.

UNESCO (2020), Contribution to Universal Periodic Review (36th Session, April – May 2020), retrieved from UNESCO.

The World Bank (2019), Population ages 0-14 (% of total population) – Liberia, retrieved from World Bank.

Human Rights Committee (27 August 2018), Concluding Observations on the initial report of Liberia, International Covenant on Civil and Political Rights, CCPR/C/LBR/CO/1.

UNICEF Liberia (14 December 2020), PRESS RELEASE -The Government of France Supports Birth Registration in Liberia, Monrovia.

OHCHR (December 2015), An Assessment of Human Rights Issues Emanating from Harmful Traditional Practices in Liberia, United Nations Mission in Liberia.

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UNICEF (2019), The State of the World’s Children 2019 – Children, food and nutrition: Growing well in a changing world, retrieved from UNICEF.

International Monetary Fund (January 2021), Liberia – Poverty Reduction and Growth Strategy, IMF Country Report No. 21/10, retrieved from IMF.

Human Rights Council (25 February 2020), Summary of Stakeholders’ submissions on Liberia, A/HRC/WG.6/36/LBR/3.

Human Rights Council (24 August 2020), National report submitted in accordance with paragraph 5 of the annex to Human Rights Council resolution 16/21, A/HRC/WG.6/36/LBR/1.

Human Rights Council (6 March 2020), Compilation on Liberia – Report of the Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights, A/HRC/WG.6/36/LBR/2.

United Nations Mission in Liberia, OHCHR (October 2016), Addressing Impunity for Rape in Liberia, retrieved from ohchr.org.

United States Department of State (2018), Country Reports on Human Rights Practices for 2018,  Bureau of Democracy, Human Rights and Labor.

Ministry of Health and Social Welfare (May 2020), Liberia – Demographic and Health Survey 2019-20 – Key Indicators Report, retrieved from dhsprogram.com.


[1] Dieser Artikel gibt keineswegs vor, eine vollständige oder repräsentative Darstellung der Kinderrechte in Liberia zu geben; eine der vielen Herausforderungen sind in der Tat die kaum aktualisierten Informationen über liberianische Kinder. Viele dieser Informationen sind unzuverlässig, nicht repräsentativ, veraltet oder einfach nicht vorhanden.